Kapitel 2

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Mein Atem lässt kleine Wolken vor meinem Gesicht entstehen. Ich ziehe meine Jacke fester um mich, um mich jedenfalls vor der äußeren Kälte schützen zu können.
Leicht beschämt schaue ich runter auf mein Werk, der ehemals schneebedeckte Boden ist von meinem Blut getränkt und glitzert rot im Sonnenuntergang. Tatsächlich habe ich das Grab daneben ebenfalls aufgewühlt, doch sieht es nicht im geringsten so zerstört aus wie das meiner Familie.

Meine Familie. Meine Tote Familie.

„Achja, ich hab ja fast das wichtigste vergessen.", murmelte ich mir selbst zu. Ich gehe einige Schritte zum Brunnen und schneide einige Rosen, welche um diesen wachsen, ab. Mit ihnen in der Hand stiefle ich wieder zum Familiengrab und lege dort die Rosen nieder.
Ein Schluchzen entfährt mir noch, bevor ich mich aufrappelte und den Rückweg antrete. Der Weg bis zum Törchen kam mir kürzer als auf dem Hinweg vor, stelle ich verwundert fest. Es verwundert mich immer wieder das einem die Rückwege kürzer vorkommen als die Hinwege.

Mit einem letztem schmerzenden Blick drehe ich mich um und schaue auf den alten verschneiten Friedhof. Ich hab hier wahrscheinlich viel zu viel Zeit meiner Kindheit verbracht, doch bereuen tue ich es nicht. Man soll dort sein wo man sich am wohlsten fühlt, Worte von Schwester Lissy also müssen sie wahr sein. Lissy sagte mir immer die Wahrheit, immer.
Sie war meine erste und einzige Vertraute, sie war immer da für mich.

„River Flows in You."

Erschrocken zuckte ich zusammen und schaue auf.
Meine Augen trafen in so dunkle Augen, dass man meinen könnte sie wären schwarz.
„Bitte?", höre ich mich selbst den großen jungen Mann fragen.

„Was du da summst, dass ist doch River Flows in You, oder?"

Irritiert schaue ich abwechselnd in sein Gesicht und auf den schneebedeckte Weg unter uns, bevor ich anfange los zu stottern: „Ich-ich weiß nicht. Ich hab nicht mal gemerkt das ich was gesummt habe, k-komisch oder?"
Der junge Mann guckt kurz verwirrt, dann lächelt er.

Plötzlich streckt er mir die Hand entgegen: „Ich bin Jake und du?"
Vorsichtig schiebe ich meine Hand aus der tiefen Jackentasche und lege sie in seine große, welche er schnell schließt und sie dann vorsichtig schüttelt.
„Lucina."

Er lächelt nochmal und entzieht dann seine Hand meiner.
Ich schaue zum ersten Mal in der ganzen Zeit auf die lange Straße, um am Ende dieser den Bus Richtung Heim um die Kurve fahren zu sehen.

„Ah da kommt der Bus ja endlich.", zog der Mann neben mir wieder meine Aufmerksamkeit auf sich.
Warum muss er denn mit dem Bus fahren? Der fährt doch nur in eine verlassene Gartenstadt und zum Kinderheim...

Als der Bus neben uns zum Stehen kommt und die Türen quietschend aufmacht stelle ich überrascht fest, dass es sich um den selben Busfahrer handelt wie vorhin.
Der Arme, muss für mitleideregene Menschen wie dich durch dieses Wetter fahren.

Schnell schüttel ich meinen Kopf und steige ein. Möglichst weit hinten setze ich mich zum zweiten Mal an dem Tag auf einen der steinharten Sitze fallen zu lassen. Dieses mal etwas sanfter als vorhin.

Ich will kurz meine Augen schließen, doch hält mich ein rütteln davon ab. Ein leises Husten direkt neben mir ist der Grund.
Als ich in die Richtung des Erzeugers vom Husten schaue, stelle ich überrascht Jake fest. Dieser hat es sich auf den Sitz neben mir bequem gemacht und schaut nun aus dem Fenster auf der anderen Seite hinaus.
Warum sitzt er denn direkt neben mir? Es ist doch hier überall frei?

Ich hatte in meinem bisherigen Leben eher weniger Kontakt zu anderen Menschen außer Lissy, der Kinderheimleitung Mrs Hanington und einigen Kindern gehabt. Ganz zu schweigen mit Menschen die außerhalb des Heimes sind, bis auf den Friedhofgärtner. Den habe ich im Sommer oft gesehen, wie er mit aller Mühe und Liebe die Gräber aufgefrischt hatte. Besonders bei dem meiner Familie hat er sich, meines Erachtens, mehr Mühe gegeben. Er hatte mir mal gesagt er habe extra für dieses Grab Sonnenblumenkerne gekauft und sie an den Seiten eingesät.
Daraus wurde aber dank einem Wutanfall nichts und somit gab es auch keine schönen Sonnenblumen.

Wieder einmal holt mich ein leises Hüsteln aus meinen Gedanken. Ich schaue zu dem Mann und fange an sein Aussehen auf mich wirken zu lassen.
Seine weißblonden Haare müssen künstlich so weiß gemacht worden sein, alles andere wäre unnatürlich. Wahrscheinlich genauso unnatürlich, wie seine ganzen markanten Gesichtszüge wirken. Sie wirken wie gezeichnet von einem äußerst begabten Künstler, welcher ein Meister in der Konturierung von Gesichtszügen sein muss. Jedoch lässt der lässige Drei-Tage-Bart ihn wieder realistisch und echt auftreten. Seine dichten und überraschend langen Wimpern lassen seine dunklen Augen um einiges düsterer wirken.
Mir fällt auf das er einen wirklich dünnen Mantel trägt, dafür das es -7°C draußen sein soll. Jedenfalls ist es das, wenn man der Anzeige im Bus glaubt.
Unter dem dünnen Übergangsmantel trägt er einen dunkelroten Pullover, dazu passend eine schwarze Hose. Das Outfit lässt ihn, meines Erachtens, sehr blass wirken. Doch wie soll ein Mensch auch braun werden, wenn sich draußen nie die Sonne blicken lässt?

"Du tust es schon wieder."

Ich blinzle einige mal bevor ich verstehe das Jake mit mir redet.
„Du summst vor dich hin.", erläutert er sich. Ich schaue erst ihn an, bevor ich aus dem Fenster blicke.
Das habe ich gar nicht gemerkt...

"Das ist nicht schlimm, stell dir vor du würdest dauernd mit deinen Händen unterbewusst rum zappeln. Das wäre viel anstrengender."
Wieder sehe ich den Mann an und fange jetzt langsam erst an mich zu fragen, warum er immer noch mit dem selben Bus fährt wie ich.
Muss er nicht bald mal aussteigen?
Die Station vom Kinderheim ist die nächste. Ich mache mich bereit aufzustehen, um mich an dem Fremden vorbeizudrängeln, als er auf einmal auch aufsteht.
Meine Augen werden groß und ich streiche mir verwundert eine meiner blonden Locken aus dem Gesicht.

"Dann werden wir mal gucken ob sie da ist.", höre ich den Mann vor mir murmeln, als wir aus dem Bus in die Kälte stiegen und ich weiß ehrlich nicht ob es an mich oder mehr zu sich selbst war.

Lucina - The RevengeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt