Emptiness and tears

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,,Tief durchatmen, Flo. Du schaffst das", murmelte sich der noch 35-jährige Florian Heider zu, während er sich seine moosgrüne Jacke anzog. Der Oberpfälzer lebte in einer Mietwohnung in Köln, welche sehr in der Nähe des Rheins lag.
Mit seinem roten Renault Kangoo fuhr der Heider, so wie er sich auf YouTube nannte, zu seiner Arbeitsstelle.
Den ganzen Sonntag hatte er mit dem drehen und schneiden von YouTube Videos verbracht und nun musste er wieder zur Arbeit. Leider regnete es heute auch noch, aber das war nicht weiter schlimm.
Bei seinem Job war der Heider sowieso nicht oft draußen an der Luft.
Er arbeitete bei der Telefonseelsorge.
Dieser Job war jeden Tag aufs neue aufregend.
In einem Büroähnlichen Raum saßen ungefähr 30 Mitarbeiter, welche rund um die Uhr Anrufe entgegennahmen.
Über viele Stockwerke hinweg saßen Menschen am Telefon und berieten Ratsuchende.

An seinem Platz angekommen, legte der Heider seine moosgrüne Jacke über seinen Stuhl, holte sich in dem kleinen Küchenabteil eine Tasse Kaffee ab und ließ sich auf dem gemütlichen, roten Drehstuhl nieder.
Sein Handy legte er auf dem weißen Tisch ab. Nachdem er seinen Computer hochgefahren hatte, las er sich ein paar E-Mails durch, bevor auch schon das rote Telefon klingelte.
Eine junge Frau wollte wissen, wie sie ihren Eltern ihre Bulimie erklären sollte.
Denn diese hatten sie beim Erbrechen erwischt und nun fühlte sie sich einer Erklärung schuldig.
Florian beriet sie noch eine Weile, munterte sie auf und wünschte ihr viel Glück.

Vollkommen erschöpft kehrte der noch 22-jährige Student Timon nach Hause zurück.
Die Uni hatte ihm mal wieder all seine Kraft geraubt. Wie sollte er denn jetzt noch ein YouTube Video drehen und schneiden?
Denn der braunhaarige Student war nebenbei auch noch YouTuber. Auf YouTube nannten ihn alle Klengan oder bei seinem echten Namen. Mit den daily-Videos konnte er sich einen Teil des Studiums finanzieren. Aber seit dem Beginn des zweiten Semesters war er völlig ausgelaugt. Auch sein Appetit war wie verschwunden. Er hatte mindestens 10 Kilo in den letzten zwei Monaten verloren.
Glücklicherweise fand er noch ein etwas älteres, umgeschnittenes Video in seinem Order.
Dieses Video schnitt er dann mit Mühe, bevor er es, pünktlich um 18 Uhr, auf seinem YouTube Kanal mit dem Namen "Klengan" hochlud.
Timon war schon mal beim Arzt gewesen, dieser hatte ihn damals mit einer "high-functioning-depression or dysthymia" diagnostiziert, zu deutsch eine "Dysthymie". Dies war eine langanhaltende depressive Verstimmung, welche aus den gleichen kognitiven und psychischen Mustern wie eine Depression bestand, allerdings mit Symptomen, die weitaus länger andauern. Denn damals, im ersten Semester, hatte er es noch aus dem Bett geschafft, wenn auch mühselig.
Aber mittlerweile lag Timon morgens im Bett und konnte einfach nicht aufstehen. Es ging einfach nicht.
Er hatte seine Vorlesungen sogar auf später verschieben müssen, das hieß, dass er jetzt statt um 8 Uhr um 9 Uhr zu seinen Vorlesungen ging.
Aufstehen musste er um 7 Uhr. Aber meistens verließ er erst um 8 Uhr das Bett, duschte sich sehr lange, bis er sich meistens um 8:30 Uhr anzog. Inzwischen frühstückte er auch nicht mehr vor der Uni, weil er einfach keine Motivation dazu aufbringen konnte.
Früher war Timon noch ins Fitnessstudio gegangen, war viel draußen und hatte Cello gespielt.
Aber irgendwann hatte er sich beim Fitnessstudio abgemeldet, war aus dem Cello-Kurs ausgetreten und das Haus nur noch für die Fahrt zur Uni verlassen.
Timon schleppte sich durchs Leben. Und seine Gedanken wurden von Tag zu Tag finsterer.
Er fühlte sich so leer und erschöpft, es war zum heulen.

An Selbstmord hatte er oft gedacht. Da er jeden Morgen mit der Bahn fuhr, hatte er den Schienensuizid in Betracht gezogen, aber das war ihm dann doch eine Nummer zu groß.
Er wollte schon noch komplett in seinem Sarg liegen und nicht in Einzelteilen.
Müde las er sich ein paar Kommentare unter seinem neuen Video durch, bevor er sich erschöpft in sein Schlafzimmer schleppte. Dort zog er sich Schlafsachen an, steckte sein Handy an sein Ladekabel und legte seine Brille auf seinen Nachttisch. Müde schlurfte er ins Badezimmer und putzte sich seine Zähne.
In seinem Bett wälzte er sich von der einen Seite zur anderen, doch er konnte nicht einschlafen.
Vorsichtig nahm er sich seine Brille, setzte sie auf und stand auf.
Langsam ging er in Richtung seines Balkons, von welchem er den Abendverkehr Kölns prima beobachten konnte.
Lautlos öffnete er das Fenster.
Auf seinem Handy blinkte eine Benachrichtigung. Verwundert ging er zurück, um es zu holen.
Es war bloß die Benachrichtigung für ein neues Software Update.
Genervt drückte Timon auf die "Fahre Update in 2 Stunden"-Option, bevor er wieder auf den Balkon ging.
,,Wenn ich hier runterspringe, dann habe ich es hinter mir. Dann muss ich nicht mehr leiden", murmelte Timon und legte die Hände an das Geländer. Plötzlich fing er an zu weinen. Die salzigen Tränen kullerten über seine Wange und fielen in den kalten Abgrund. Die nahegelegene Straße lärmte immer noch. Nach einiger Zeit wurde es ruhiger.
,,Ich-Ich will aber nicht springen. Ich will doch nur, dass der Schmerz aufhört", weinte der Kölner Student leise und fuhr sich mit der linken Hand durch die Haare.

Der Tag war fast zu Ende, denn der Heider arbeitete bis 21 Uhr. Danach wurde er von einer Kollegin abgelöst.
,,Noch eine Stunde und eine halbe, dann habe ich Feierabend", murmelte der Heider, während er sich die Hände wusch.
Eilig marschierte er aus dem WC in Richtung Schreibtisch zurück.
Langsam wurde der rote Drehstuhl ungemütlich. Einen weiteren Kaffee wollte Florian sich jetzt nicht holen, dafür war er etwas zu müde.
Die Gedankengänge des Heiders wurden von dem Klingeln des Telefons unterbrochen.
Eine weinende Stimme war am anderen Ende der Leitung zu hören.
Nachdem der Heider seinen immer gleichen Anfangssatz aufgesagt hatte, fragte er: ,,Wie kann ich dir helfen?".
,,I-Ich will doch nur, dass der Schmerz aufhört. Ich w-will nicht springen", weinte die Stimme.
,,Okay, das klingt so, als wenn du vorhast, Suizid zu begehen. Sehe ich das richtig?", fragte Florian und langsam atmete er aus, während er auf eine Antwort wartete.

,,J-Ja. Genau das h-hatte ich vor, a-aber i-ich...i-ich kann d-das einfach nicht", antwortete die Stimme. Am anderen Ende der Leitung befand sich Timon, welcher völlig aufgelöst am Rand seines Balkons stand und zitternd das Handy an sein Ohr presste.
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(Wortcount: 1042 words.)

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