𝟞. „Worauf wartest du?" fragt Clark während er auf das Haus der Mansons zu geht.
Grace schluckt. Alice.
Tief in ihrem Herzen weiß sie, dass es ihre Schuld ist. Wegen ihr ist Alice gestorben.
Sie kann da nicht reingehen. Die Erinnerungen werden sie überschwemmen, untertauchen, ertränken. Allein der Duft der süßen Blumen im Garten treibt ihr die Tränen in die Augen.
„Grace?" setzt Clark hinterher.
Grace nickt.
Dann setzt sie langsam einen Fuß vor den anderen. Die Steine fühlen sich seltsam vertraut unter ihren Schuhen an. Sie erinnert sich, wie sie mit Alice darauf mit Kreide gemalt hat.
Erinnerungen an eine Frau und einen Mann steigen in ihr auf, beide mit dunkler Haut und tiefschwarzen Haaren. Die Augen der Frau sind seltsam. Das rechte ist hellblau, das linke braun und um die Pupille herum dunkelgrün.
Sie erinnert sich an Abende mit Alice' Familie, an das laute Lachen von ihrer und Alice' Mutter, an Gartenarbeit mit der gesamten Familie Manson.
„Ich schaff' das nicht." flüstert Grace und bleibt stehen. Sie hat die Augen weit aufgerissen, als immer mehr Erinnerungen von unterschiedlichen Augenfarben, lachenden Kindern und aufblühenden Blumen auf sie einströmen.
Dann wechseln die Bilder plötzlich.
Sie sieht ein Mädchen in einem alten Haus sitzen. Ihre schwarzen Locken stehen ihr wild vom Kopf ab, sie trägt ein weißes Sommerkleid. Sie hebt den Kopf langsam. Zwei unterschiedliche Augen brennen sich in Grace' grüne.
Das Bild flackert. Alice stößt einen schrecklichen Schrei aus. Wie aus dem nichts taucht ein Mann neben ihr auf. Er hat mittelbraune Haare und ein irres Grinsen im Gesicht.
Seine Augen sind von einem kalten grau.
Der goldene Mörder.
„Felicia!" hört sie plötzlich, wie durch einen dichten Schleier.
Aus Alice' Mund quillt Blut und ihre Augen werden langsam von braun und blau zu einem milchigen weiß.
„Felicia!"
Clark rüttelt besorgt an Grace' Schultern. Sie schlägt urplötzlich die Augen auf.
Dann bemerkt sie, wie verkrampft sie dasteht. Sie ist in die Knie gegangen, hat den Kopf eingezogen und die Hände an die Ohren gepresst.
Eine weitere Erkenntnis trifft sie.
Als Alice angefangen hatte zu schreien, entwich auch auch ihrem Mund ein grauenvoller Schrei.
„Alles okay?" flüstert Clark.
Walter schaut sie geschockt an.
Grace traut sich nicht zu antworten. Sie hat Angst, sie könnte wieder schreien. Oder sogar weinen.
Was hat Kristina dir gesagt? Keine Gefühle zulassen!
Und für heute hatte sie eindeutig bereits genug Gefühle gezeigt.
Plötzlich wird die hölzerne Haustür des alten Hauses aufgestoßen.
Heraus stürmt eine große Frau mit wilden, schwarzen Locken, dunkler Haut und zwei unterschiedlichen Augenfarben. In ihrem Gesicht steht die Sorge.
„Grace!" murmelt sie und rennt auf das zusammengekauerte Mädchen zu.
Sie schließt es in eine feste, mütterliche Umarmung.
Clark schluckt. Grace hätte das alles haben können. Eine Mutter, eine Kindheit. Aber er hatte ihr das alles weggenommen.
„Grace." flüstert die Frau und presst sie noch fester an sich.
„Zarah?" fragt Grace leise.
„Ja, Schatz, ja. Willkommen zu Hause." antwortet die Frau und streichelt Grace übers Haar.
Dann gehen die beiden Arm in Arm ins Haus.
Clark und Walter folgen ihnen und schließen die Tür hinter sich.
Das hier ist nicht für die Außenwelt bestimmt.
„Setz dich, Schatz." sagt Zarah, Alice' Mutter, und weist Grace einen Stuhl an.
„Ich bin so glücklich dich wiederzusehen. Diese Menschen müssen schreckliche Dinge mit dir getan haben. Wir hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, als dann Clark etwas aufschnappte und dich da rausholte. Ach Grace! Ich bin so froh, dass du hier bist!" sagt sie und macht sich am Wasserkocher zu schaffen.
„Tee?" fragt sie dann und sieht Grace mit ihren strahlenden Augen an.
Grace nickt. Sie weiß nicht, was sie hiervon halten soll. Ein verschlafenes altes Dörfchen mit einem Haus voller Geheimnisse.
„Der Tee muss warten, Zarah. Wir müssen Grace zum Chef bringen. Tut uns leid." sagt Clark dann.
Grace wendet sich zu ihm.
Er steht im Türrahmen und sieht Alice' Mutter entschuldigend an.
„Schon klar, Clark. Ich mach' euch allen einen Tee fertig."
„Danke, Zarah." sagt Walter.
Dann nickt Clark Grace zu und sie steht auf.
„Bis gleich." sage Grace an Zarah gewandt.
Sie nickt.
„Hier entlang, die Lady." sagt Walter und weist eine Treppe hinauf.
Hätte Grace gewusst, was sie jetzt erwartet, hätte sie kehrt gemacht und wäre weggerannt.
Doch sie kann nicht in die Zukunft sehen.
Leider.
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Mad Murderer
Mystery / ThrillerGrace Felicia Anderson ist 19 Jahre. Sie sitzt im Gefängnis. Sie hat hunderte von Menschen umgebracht. Sie hat keine Vergangenheit. Bis jetzt. *Slow updates*