Kapitel eins, neu geboren (1/3)

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Ich öffnete meine Augen und wurde vom Licht geblendet. Die Sonne ging gerade unter und schien aus dem Fenster direkt in mein Gesicht. Sie leuchtete in einer rotorangenen Farbe und färbte den Himmel ähnlich. Neben mir saß ein Junge und hielt meine Hand. Erschrocken riss ich sie weg und setzte mich auf. Wer war er und warum hielt er meine Hand? Und wo bin ich überhaupt? Ich lag in einem Bett, welches sich in einem kleinen, schlicht eingerichteten Zimmer befand. Um nicht geblendet zu werden, hielt ich mir meine Handseite an die Augenbrauen und musterte anschließend den Fremden.

Der Junge hatte leuchtend grüne Augen und Honigblondes Haar, welches in dem Sonnenlicht strahlte. Seine Gesichtszüge waren kantig, was ebenfalls durch die Sonne hervorgehoben wurde.

>>Sie ist wach! << rief er und senkte seinen Blick >>und ihre Erinnerungen wurden gelöscht<< fuhr er etwas leiser fort, als würde er es sich selbst sagen.

Meine Erinnerungen wurden gelöscht? Raffinierte Idee, um bei entführten Kindern das Vertrauen zu gewinnen. Verdammt! Wo bin ich nur? Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern. Wie komme ich hier raus? Ich begann zu zittern und konnte es nicht kontrollieren. Ich frage mich, wie sie mich Bewusstlos gemacht haben. An meiner Stirn konnte ich keine Beule ertasten, also haben sie mir vermutlich aufgelöste Schlaftabletten gegeben oder ähnliches. Man musste jedoch zugeben, dass der Junge ein sehr guter Schauspieler war, sein trauriger Blick sah überzeugend echt aus.

Ein anderer Junge kam in das Zimmer. Er stützte sich beim Laufen an einen Regenschirm. Um seinen rechten Unterschenkel war ein Verband gewickelt. Ich musterte ihn. Sein Haar war schwarz und gewellt und seine Augen eisblau. Er sah geschwächt aus, denn seine Haut war außergewöhnlich blass und er bewegte sich nur sehr langsam vorwärts. Schließlich setzte er sich auf den Bettrand gegenüber dem anderen Jungen. Ich hätte früher reagieren und aufstehen müssen. Jetzt saß ich in der Falle. Panisch atmete ich ein und aus und starrte die beiden an.

>>Das war leider fast unvermeidlich<< sagte er >>Hoffen wir, sie kann noch sprechen und laufen<<

>>Warum sollte ich es nicht können? << fragte ich verwirrt.

>>Keine Angst<< sagte der dunkelhaarige Junge und tätschelte mich am Arm, welcher reflexartig zusammenzuckte >>wir tun dir nichts. Jetzt laufe mal bitte ein Stück<< forderte er mich auf. Seine Stimme klang sehr beruhigend und besorgt. Das wäre meine Chance zu fliehen, aber mein Bauchgefühl sagte mir, ich sollte bleiben. Ich weiß nicht, was es war, aber irgendetwas bei den Jungen kam mir vertraut vor. Außerdem es kam mir verdächtig vor, dass mich Entführer in einem Zimmer bei geöffneter Tür frei laufen ließen. Es könnte natürlich Absicht sein, um mich zu täuschen und ein weiterer Trick, um mein Vertrauen zu gewinnen, aber es kam mir unwahrscheinlich vor. Ich beschloss auf mein Bauchgefühl zu hören, stand  auf, ging ein paar Schritte und lehnte mich an eine Wand, von der ich beide im Blick hatte und notfalls fliehen könnte.

>>Wer seid ihr und was wollt ihr von mir? << fragte ich mit verschränkten Armen.

>>Ich bin Ryan und das ist Dave<< antwortete der blonde und deutete mit Handgesten erst auf sich und dann auf den anderen Jungen >>Wir wollen dir nur ein paar Fragen stellen und dass du das hier trinkst<<

Erst jetzt bemerkte ich das Glas in seiner Hand, welche er hob. Die Flüssigkeit, die es enthielt, war trübe weiß. Es könnte etwas giftiges sein. Ich blickte zum Fenster. Wir befanden uns zu weit oben, um herauszuspringen und ich wusste nicht, ob die Außenwände zum Klettern geeignet waren. Ich würde demnach erst durch die Tür und dann durch das Gebäude fliehen müssen. Die beiden Jungen hatten höchstwahrscheinlich den Vorteil, dass sie sich hier gut auskannten.

>>Warum sollte ich euch vertrauen? << fragte ich und verschränkte die Arme.

>>Es ist eine lange Geschichte<< sagte Dave.

>>Ich habe Zeit<< erwiderte ich.

>>Das würde ich an deiner Stelle nicht behaupten<< sagte er und seufzte >>Du bist krank und das ist deine Medizin<< er deutete mit den Augen auf das Glas.

>>Ich fühle mich aber nicht krank<<

>>Gut, dann ist wenigstens das Fieber weg<< meinte Dave erleichtert. Er zögerte kurz und stotterte dann: >>du hast Amnesie<<

>>Kannst du es beweisen? << fragte ich misstrauisch.

>>Wie lautet dein Name? << fragte er zurück.

Ein Schauder durchfuhr mich und ich stand wie eingefroren da. Auf diese Frage wusste ich zu meiner Verwunderung keine Antwort. Ich kannte meinen eigenen Namen nicht. Auf der Unterlippe kauend schaute ich in die Augen der beiden Jungen. Jetzt bemerkte ich, dass Ryans Augen mit auffällig dunklen Ringen umrandet waren. Er musste die ganze Nacht wach gewesen sein. Wahrscheinlich hielt er meine Hand schon lange bevor ich aufwachte. Bei der Erkenntnis schämte ich mich dafür, dass ich so misstrauisch war. Mein Bauchgefühl hatte offenbar recht. Die beiden waren keine Entführer.

>>Es scheint demnach doch ziemlich ernst zu sein<< Sagte Ryan, nachdem ich eine Weile lang schwieg. Er senkte wieder seinen Kopf und stützte sich mit den Fingern am Nasenrücken.

Die Trauer in den Gesichtern der Jungen musste echt sein. Ich bekam zusätzlich schlechtes Gewissen und beschloss ihnen zu vertrauen.

>>Na schön<< sagte ich und griff nach dem Glas. Ryan schaute erleichtert auf. Die Flüssigkeit schmeckte unerträglich bitter, jedoch zwang ich mich sie auszutrinken.

Ich stellte das Glas wieder ab und fragte: >>Wie lautet nun mein Name? <<

>>Cara Johnson<<

Nun kam eine große, blonde Frau in das Zimmer.

>>Cara, wie schön, dass du wach bist<< sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht >>weißt du noch wer ich bin?<<

>>Tut mir leid, aber nein<< antwortete ich. Ihr Lächeln verschwand schlagartig.

>>Nein, mir tut es leid<< sagte sie und streckte ihre Hand aus >>Ich bin Nataly Spruce, nenne mich aber bitte nur Natty<<

Ich schüttelte zögerlich ihre Hand. >>Das hier ist meine Wohnung<< sie bewegte ihre Arme auseinander >>willst du einen kleinen Rundgang machen? << Eigentlich würde ich viel lieber die unendlich vielen Fragen stellen, die mir gerade einfielen, aber ich nickte. Natty hob wieder ihre Hände und sagte: >>Das ist das Schlafzimmer<< Ich sah mich um. Die Wände waren beige und türkis angestrichen. Gegenüber der Tür stand das Doppelbett, auf dem ich offenbar die Nacht verbrachte. Es war aus weiß gefärbtem Metall, welcher zu dekorativen Mustern gebogen war. Daneben befand sich ein riesiger, weißer Kleiderschrank.

>>Schau mal, der Boden ist aus dreißig Jahre altem Fichtenholz<< prahlte Natty >>ist er nicht schön? <<

>>Ja, das ist er<< gab ich zu. Er hatte eine kräftige, dunkelbraune Farbe und glänzte im Licht der Kerzen, die in Grüppchen im ganzen Raum verteilt waren. Natty lächelte breit und zeigte dabei ihre etwas schiefen, aber schneeweißen Zähne. Es bildeten sich kleine Grübchen und Fältchen auf ihren Wangen. Ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten. Ich vermutete ihr alter entsprach etwa dem des Bodens. Wir kannten uns wohl nicht so gut, wenn sie so schnell nachdem ich sie komplett vergaß lächeln konnte und zwar aufgrund ihres schönen Holzbodens.

Mein Blick wandte sich dem Kleiderschrank. Sie merkte es.

>>Ganz schön groß, nicht? << sagte Natty.

>>Kann man so sagen<< erwiderte ich, sie untertrieb völlig. Der Schrank war locker drei Meter breit, fast genauso hoch und auch ziemlich tief.

>>Kannst ihn ruhig öffnen und dir etwas Schönes zum Anziehen aussuchen. Ich nehme an, du willst nicht ewig diese grauenvolle Uniform tragen<<

Amnesie - (un)vergessliche MomenteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt