Der Jahrestag

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Erzählung zum Thema Leben & Liebe

"Na ja, was hattest du denn auch anderes erwartet", schimpfte er leise mit sich selbst. Seit mehr als zwanzig Jahren war es doch jedes Mal dasselbe gewesen. Stolz darauf, in all diesen Jahren niemals diesenTag vergessen zu haben, konnte er als Mann ja wohl sein. Er kannte genug Geschichten von Männern, die schon nach drei, vier Jahren anfingen den Jahrestag zu vergessen. Das würde ihm aber niemals passieren. Dafür liebte er diese Frau einfach zu sehr. Sie machte doch sein ganzes Leben und Handeln aus. 

"Wofür sollte ich denn sonst wohl leben, wenn nicht für dich?"

Bitter klang es und verhallte ungehört. 

Keine Reaktion! 

Wie immer. Betreten schaute er auf seine Schuhe. Er hatte sie sich extra wegen ihr gekauft, damals – zur Hochzeit, und trug sie auch nur an diesem besonderen Tag.  

"Du weißt doch, ich würde es nie von dir verlangen. Aber du kennst doch meine Mutter, und ich will nicht, dass sie uns diesen Tag mit ihrem Gemecker kaputt macht. Kannst du denn wenigstens heute nicht mal dieTurnschuhe weglassen?", hatte sie ihn am Morgen des Hochzeittages angebettelt. 

Was konnte er schon gegen diesen Blick und diese Frau machen. Für sie würde er sich sogar seine geliebten langen Haare abschneiden lassen. Man gut das sie das nicht wusste, sonst hätte er wohl auch noch zum Friseur gemusst – und dafür wäre die Zeit zu knapp geworden. Keine Stunde hatte es gedauert, und er stand mit diesen Paar Halbschuhen in der Hand vor ihr. Er liebte diesen Glanz in ihren Augen den sie immer bekam, wenn er ihr einen besonderen Gefallen getan hatte. 

Die Tränen liefen ihm einfach so aus den Augen, bahnten sich ihren Weg durch das faltige Gesicht und tropften klatschend auf die Regenjacke. 

"Blöder Regen! Mitte Dezember, keine gute Zeit für so einen Tag. Aber das kann man sich eben nicht immer aussuchen", murmelte er vor sich hin, während er sich hastig und verstohlen die Tränen fortwischte. Er war doch ihr Held, und Männer weinen nun mal nicht – jedenfalls nicht wenn einer das sehen könnte! Unschlüssig drehte er die mitgebrachten Blumen in der Hand auf dem Rücken. "Nun gut, ich geh dann mal wieder los, du hast mir ja doch nichts zu sagen – Oder?". Keine Antwort mehr abwartend, stopfte er schnell die Blumen in die Vase, drehte sich wortlos um und machte sich auf den Weg.  

"Aber bald, da gibt es hier eine große Fete! Fünfundzwanzig Jahre... Ha, das schaffe ich auch noch. Und dann werden wir es Krachen lassen! So richtig mit dem Silberschild und einem großen Eichenkranz! Jawohl", stieß er zornig dem kalten Dezemberwind entgegen. 

Obwohl?! 

Ach was, er würde die Friedhofsleitung schon davon überzeugen. Fünfundzwanzig Jahre! Wer könnte denn da schon nein sagen?  

Jeden Hochzeitstag hatte er in mehr als zwanzig Jahren hier mit ihr verbracht. Selbst den Ersten schon. Man gut, dass sie wenigstens nicht hier zu Heiraten brauchten – damals! 

Quietschen fiel das große eiserne Tor hinter ihm zu, und der Lärm der Stadt tobte wieder um ihn herum.

Die Liebe und ihr Bruder SchmerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt