Fünfzehn

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Delilah wurde von panischen Rufen aus ihrem Traum geweckt. Darauf folgten Kanonenschüsse. Das Schiff schwankte hin und her und nur ein paar Meter von ihrem Gefängnis entfernt schlug eine Kugel durch den Bug des Schiffes. Holz splitterte und einen Moment lang konnte sie nur an das Dröhnen in ihren Ohren denken. Sie zwang sich zur Konzentration und überlegte, wie sie hier schnell rauskam. Die nächste Kugel könnte schließlich nicht nur das Schiff, sondern auch sie durchbohren. Doch keine Minute später kam auch schon Sin mit Amir und Malik die schmale Treppe zur ihr nach unten und entriegelte die Tür.

"Wir werden von der Königlichen Marine angegriffen.", knurrte er. "Kannst du was tun?"

Delilah rang innerlich mit sich. Sie könnte die Silbertiefe und ihrer Crew ihrem Schicksal überlassen. Aber dann könnte sie nicht fliehen, denn Sin würde sie garantiert an das Schiff ketten, damit sie mit ihnen unterging. Aber wenn sie versuchte, ein Meerwesen um Hilfe anzuflehen, worin sie nicht mal Übung hatte, dann würde es in den Kampf verwickelt und wahrscheinlich verletzt werden. Ihr Entschluss stand fest.

Sie rührte sich nicht und starrte Sin stur entgegen. Sin machte ein paar Schritte auf sie zu.

"Verrdammt nochmal, Delilah! Das hier ist ein kein Spiel! Wir saufen ab, wenn du nichts unternimmst!"

Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben und zuckte beiläufig mit den Schultern. "Dann saufen wir eben ab. Hast du etwa Angst vor der Hölle, Pirat?"

Sie lobte sich innerlich, dass ihr Tonfall so provozierend war, dass Sin rot anlief. Er hörte das Kampfgeschrei seiner Männer an Deck. Schnell fuhr er zu Amir und Malik herum.

"Ich muss da hoch. Überzeugt sie oder erschießt sie!", befahl er. An der Treppe drehte er sich für nur einen kurzen Augenblick zu Delilah um, eher in dem Getümmel verschwand.

Delilah blickte die beiden Männer vor sich an. "Dann werdet ihr mich wohl erschießen müssen."

Amir sah unsicher zu der Pistole in seiner Hand hinab, während Malik sich nur seufzend gegen die Zellentür lehnte.

"Wir werden dich nicht erschießen, Kleine. Mich würde viel eher interessieren, warum so wenig Angst vor dem Tod, aber vor St. Muerde hast."

Ein weiteres Mal durchquerte eine Kugel den Bug. Ein großer Holzsplitter verfehlte Malik nur knapp.

"Ist das wirklich der passende Moment, um darüber zu sprechen?", fragte Delilah stirnrunzelnd.

"Ohne deine Hilfe gehen wir gemeinsam unter, also ist es auch schon egal."

"Verdammt.", murmelte Delilah, bevor sie aufsprang und zur Treppe rannte.

Malik und Amir folgten ihr. Als sie auf dem Deck ankam, wünschte sie sich, sie wäre unten geblieben. Männer der Königlichen Marine kämpften überall mit Sins Crew, während Kanonenkugeln weiter die Silbertiefe zerstörten. Sie sprang rechtzeitig zur Seite, als ein Soldat neben ihr leblos zu Boden fiel. Ohne lange nachzudenken griff sie sich seinen Säbel und stürzte sich auf einen Soldaten, der Cem um ein Haar von hinten erwischt hätte. Sie sah sich um, um sicherzugehen, dass kein Soldat es auf sie abgesehen hatte, eher sie zur Reling stolperte. Sie rief sich jede Beschwörung, jedes Gebet und jeden Spruch der Rhajis ins Gedächtnis; alles, das ihre Mutter ihr beigebracht hatte und krallte sich so fest ans Holz der Reling, dass ihre Hände schmerzten. Sie hatte ihre Perle abgenommen und laut ausgesprochen, warum sie die Rhajis und das Meer hasste. Aber nun lag all ihr Vertrauen und das Schicksal der Silbertiefe darin. 

°*°

Was machte Delilah da? Sin sah ungläubig zur Reling, wo Delilah nur dastand, den Blick auf die Wellen gerichtet. Und ein Soldat kam direkt auf sie zu. 

"Delilah!", schrie er über das Kampfgetümmel hinweg, aber sie schien wie in Trance. 

Er rannte los und konnte den Soldaten gerade so abwehren und zurückdrängen. Und dann hörte er das fremde Gebrabbel, das Delilah von sich gab. Sie half ihnen tatsächlich. Er sah sich noch eine Sekunde lang an, bevor er sich wieder den Soldaten widmete. 

Und wieder hatte er keine Ahnung, was er von ihr halten sollte. 

°*°

Delilah wurde schlecht. Sie spürte, dass ihre Worte nicht ohne Bedeutung waren. Aber sie zum ersten Mal mit solcher Angst und solcher Hingabe aufzusagen, war neu für sie. Die Kraft einer Rhaji war enorm und wenn man alles in eine Situation steckte, waren die Folgen unvorhersehbar. Aber jede Vorsicht rückte in den Hintergrund.

Sie spürte Tränen der Verzweiflung in ihren Augen, als sie plötzlich etwas spürte. Es war dasselbe Gefühl, dass sie bei der Korallschlange und dem Gischtross gehabt hatte. Eine Vertrautheit, die man nicht in Worte fassen konnte. 

Und da sah sie ihn.

Einen gigantischen Vogel, dessen Flügel und Schwanzfedern mit den Wellen zu verschmelzen schienen. Er kreischte, sodass sie sich die Ohren zuhalten musste, aber sie musste lachen.

Sie hatte es geschafft!

Das Wasser folgte seinen Federn und überschwemmte die beiden Schiffe. Doch während die Soldaten von den gewaltigen Wellen ins Meer gerissen wurden, blieben Sin und seine Männer auf sonderbare Weise unverletzt.

Delilah griff nach den Netzen an der Seite der Silbertiefe und kletterte ins Krähennest. Der Vogel blieb kurz davor in der Luft. Seine blauen und weißen Federn schimmerten in der untergehenden Sonne und seine silbernen Augen fixierten Delilah. Sein pechschwarzer Schnabel verzog sich erneut zu einem Kreischen, bevor er mit tosenden Wellen wieder davon flog. Delilah sah ihm lächelnd hinterher. Sie wollte wieder hinunter klettern, als sie etwas auf dem Boden des Krähennests liegen sah.

Eine kleine, blau-weiße Feder.

Sindbad (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt