Zehn

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Die Tage zogen vorbei. Sin starrte auf die ruhige Wasseroberfläche. Heute hatten sie kaum Wellengang und Wind war auch kaum zu spüren. Wenn das so weiterging, würden sie noch über einen Monat brauchen. Delilah plante die Route gut, aber sie schien allen mythischen Orten aus dem Weg gehen zu wollen. Genau wie ihm auch. 

Klar, sie waren keine Freunde, vielleicht nicht mal Geschäftspartner. Er machte sich sogar einen Vorwurf, weil er am Abend des Schlangenangriffs so schroff gewesen war. Sie hatte nur jemanden beschützen wollen, genau wie er. Er verstand sie. 

Er sah zum Steuerrad, wo Malik mit ihr über den nächsten Zwischenstopp stritt. Er musste grinsen. Sie wäre vielleicht doch nicht so schlecht auf einem Schiff aufgehoben. Schnell schüttelte er diesen Gedanken ab. Nach St. Muerde würden sich seine, ihre und auch die Wege seiner Crew trennen.

Das war der Plan. Der Plan, der sich ganz sicher nicht wegen einer Diebin ändern würde. 

Er stieß sich von der Reling, an der er in den letzten Tagen oft gelehnt hatte, ab und ging zu den beiden hinauf. 

"Das würde uns einen ganzen Tag kosten!", rief Malik aufgebracht und gestikulierte wild mit den Armen.

"Wollt ihr lieber von Sirenen angegriffen werden!?", fauchte Delilah zurück.

"Seit wann glaubst du denn an so etwas?", fragte er herausfordernd.

"Mich hat ein zwanzig Meter langes Seemonster gebissen! Da werde ich ja noch an Sirenen glauben!"

"Ihr zwei seid schlimmer als kleine Kinder.", ging Sin grinsend dazwischen.

"Malik, Sirenen sollte man nicht unterschätzen, das weißt du. Und Delilah, wir brauchen jeden Tag, den wir kriegen können. Wir werden den Strom bei Bane Song Bay nutzen, um die verlorene Zeit, die wir durch deine Umwege haben, wieder aufholen. Diskussion beendet."

"Du bringst uns alle um.", brummte Delilah.

"Ich bin immer noch der Käpt'n dieses Schiffs.", zischte er. Er durfte seine Autorität nicht von ihr untergraben lassen. "Und ich sage, wir fahren nach Bane Song Bay!"

Delilah sah ihn argwöhnisch an, verkniff sich jedoch eine Antwort.

°*°

Es war kein Wunder, dass es trotz der Warnungen noch einige Schiffe nach Bane Song Bay trieb.

Augenscheinlich war es das Paradies.

Kristallklares Wasser, bei dem man bis zum Grund und alle Korallen und Fische genau sah. Ein weißer Sandstrand mit Palmen zog sich mehrere Kilometer dahin.

Doch dann waren da noch all die Wracks von gesunkenen Schiffen. Aber weit und breit keine Sirenen.

Delilah hörte Malik laut hinter sich lachen. "Doch keine singenden Meerweiber!?", höhnte er.

Delilah warf ihm einen bösen Blick zu. "Wart's nur ab, alter Mann. Wir sind nicht mal richtig da. Dich rette ich sicher nicht, wenn du ins Wasser gezogen wirst!"

Malik wollte erneut zu lachen beginnen, als das vorher noch ruhige Wasser plötzlich Wellen schlug. Delilah hoffte auf einen Delphin oder zumindest ein weiteres Meeresungeheuer, aber spätestens als der erste Ton erklang, starb diese Hoffnung.

Es klang nach dem wunderschönsten Lied, dass sie je gehört hatte. Aber es war etwas viel, viel Gefährliches. Während Delilah davon nur ein wenig schwindelig wurde, schüttelten die Männern immer wieder ihre Köpfe, als wollten sie nur einen lästigen Ohrwurm vertreiben. Langsam taumelten sie Richtung Reling.

Fluchend sah Delilah nach unten. Ungefähr acht junge Frauen, alle bildschön mit langem Haar und glänzenden Augen, hatten ihre roten Lippen zu einen grässlichen Grinsen verzogen, während sie ihr Todeslied sangen.

"Hört sofort damit auf, ihr dreckigen Fischhexen!", schrie sie.

Die Sirenen warfen ihr lediglich einen bösen Blick zu, eher sie sich wieder den Männern zuwandten.

Nicht mehr lange und die ersten würden über Board gehen. Sie überlegte fieberhaft. Sie musste sie wegsperren!

Sie hechtete los und zerrte einem nach den anderen runter in die Lagerräume. Es war gar nicht so leicht, denn die Crew war inzwischen wie gefangen vom Bann der Sirenen.

Mit verträumten Gesichtern und gemurmelten Liebesbezeugungen stolperten sie wie Betrunkene auf dem Deck herum.

Delilah zog mit aller Kraft und zählte dabei durch. Sieben, acht, neun...

Einer fehlte noch.

Leicht panisch sah sie sich nach Sin um. Sie entdeckte, als er bereits halb über die Reling geklettert war und sich einer Sirene entgegenstreckte, die von einem Felsen aus betörend mit den Augen klimperte während sie sang. Sie musste ihn von ihr wegbekommen.

Aber Sin war stärker als der alte Malik oder der halbwüchsige Cem. Sie zog und zog, aber kaum bekam sie einige Stücke von ihr weg, riss er sich los und wankte wieder gefährlich Richtung Reling.

Sie musste ihn ablenken, irgendwie den Bann brechen.

Sie zog ihn erneut mit aller Kraft von der Kante weg, drehte ihn schnell herum und presste ihre Lippen gegen seine.

Nach einigen Sekunden löste sie sich wieder von ihm und sah ihn an. Er blinzelte und blickte sie mehr als verwirrt an. "Del...ilah?"

Ihr Name war kaum mehr als ein Flüstern, aber der Bann war gebrochen. Sie konnte nicht mal erleichtert seufzen, als sie jemand von hinten packte und mit unmenschlicher Kraft über die Reling zog.

°*°

"DELILAH!"

Sin war noch etwas benommen, aber er dachte nicht lange nach. Sofort sprang er ebenfalls über die Reling.

Das Wasser war nicht kalt und so klar, dass er genau erkennen konnte, wie Delilah mit einer der Sirenen rang, die sie offenbar zu ertränken versuchte.

Als er zu ihr wollte, krallten sich von der Seite Nägel in seine Kleidung und Haut und eine andere Sirene hielt ihn fest.

Er trat und schlug um sich, aber sie Sirene war stark, stärker als ein Mensch, und währenddessen musste er zusehen, wie Delilah sich immer weniger wehrte und die Augen mehr und mehr schloss.

Ein Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit überkam ihn. Auch ihm wurde langsam schwindelig.

Da fiel ihm etwas ein. Er schlug mit letzter Kraft nach hinten aus, zog einen winzigen Dolch aus einem Stiefel und stieß ihn der Sirene in die Seite.

Rotes Blut vermischte sich mit dem Blau des Meeres. Sin tauchte weiter und zog die Klinge über die Kehle der Sirene, die Delilah festhielt.

Kaum hatte sich ihre krallenartigen Hände von Delilah gelöst, zog er sie zu sich und schwamm mit ihr Richtung Oberfläche. Sie rührte sich nicht mehr.

Er kämpfte weiter. Schließlich spürte er wieder die frische, salzige Luft, die seine Lunge erfüllte. Einige Männer hatten sich aus dem Lagerraum befreit und sahen nun erschrocken zu ihnen herab.

Aber Sin hatte nur Augen für Delilah, die hustend und schlapp in seinen Armen hing. Sie war am Leben. Er widerstand dem Drang, sie fest an sich zu drücken und wartete stattdessen auf das Tau, das Nev ihnen zuwarf.

Wie Toten ließen sich beide auf das Deck fallen. Sin hustete und rang nach Sauerstoff, während er sich auf zitternden Armen abstützte. Delilah ging es nicht anders.

Trotzdem musste er erleichtert lächeln.

Sie, er und vor allem die Crew waren am Leben.

Sindbad (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt