Es war ganz still, als Delilah mit der Beschwörung begann. Sie hatte sie noch gut im Gedächtnis. Ihre Mutter hatte ihr diese alten Zeilen als Erstes beigebracht. Sie seien die heiligsten Worte, die eine Rhaji aussprechen konnte. Amir sah sie fragend von der Seite an. Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte. Langsam schritt Delilah auf das Wasser zu. Die Welt verschwamm ganz langsam vor ihren Augen. Sie nahm ein paar Stimmen wahr und hatte das Gefühl, jemand würde ihr folgen. Aber das Wasser umgab sie wie eine schützende Mauer. Sie spürte eine tiefe Ruhe wie im Schlaf.
Bis der Schmerz kam.
Es war, als würde ein schweres Gewicht sie in die Tiefen drücken und ihr dabei die ganze Luft aus dem Körper pressen. Die Wellen verschlangen sie und ließen ihren ganzen Körper mit Wasser durchfluten. Dann spürte sie gar nichts mehr. Ihr Kopf fühlte sich unglaublich leicht an, als sie eine Stimme hörte.
Du gibst mir deine Seele, Rhaji. Was willst du dafür?
Die Silbertiefe.
Das Meer gab keine Antwort mehr. Unter ihr tauchten Holzplanken auf. Sie lag auf dem Deck, während das Schiff zurück an die Oberfläche trieb. Das grelle Sonnenlicht belendete sie. Im Halbschlaf lag sie immer noch auf den Planken und wusste nicht, wie viel Zeit verging. Irgendwann packte sie jemand und drückte sie an sich. Sie spürte Wärme und vernahm das aufgeregte Schlagen eines Herzens.
"Dem Meer sei Dank, du lebst!", sagte jemand.
Sie wurde hochgehoben und irgendwo hingetragen. Ihr Kopf wurde auf ein Kissen gebettet und eine Decke über ihr ausgebreitet. Und dann gewann der Schlaf die Oberhand.
*
"Das hat sie nicht verdient, Sin."
Malik trat neben ihn an die Reling. Er stand schon seit einigen Stunden hier und sah zu, wie die Sonne immer weiter nach Westen wanderte.
"Was sie gemacht?"
Seine eigene Stimme erkannte er kaum wieder. Sie klang so tonlos und kalt.
Malik fuhr sich durch die grauen Haare und stützte sich an der Reling ab, als könnte er es selbst noch nicht glauben.
"Sie hat ihre Seele dem Meer gegeben - im Gegenzug für die Silbertiefe."
"Warum?"
Malik sah ihn an, als wäre er der größte Idiot in allen Weltmeeren. Vielleicht war er das auch.
"Sie fühlt sich auf dem Schiff zu Hause, Käpt'n!" Den Titel sprach er zum ersten Mal mit Spott aus. "Sie wäre ein treues Crewmitglied, wenn du endlich einmal dein Temperament zügeln und ihr vertrauen würdest!"
Sin sah zu seiner Kajüte, wo Delilah schon fast den ganzen Tag über schlief. Er wusste nicht, ob sie überhaupt jemals aufwachen würde. Als er Malik genau das fragte, schüttelte dieser den Kopf.
"Ich weiß es nicht, Junge. Wir müssen ihr Zeit geben. Seine Seele gibt man nicht ohne Folgen her."
*
Delilah erwachte von etwas sehr Kaltem auf ihrer Stirn. Erschrocken fuhr sie hoch und stieß dabei gegen jemanden.
"Autsch! Vorsichtig und langsam! Du hast dir viel aufgebürdet."
Als sie die sanfte Stimme von Leilani erkannte, entspannte sie sich ein wenig. Ihre Muskel und Knochen schmerzen, als wäre einen ganzen Tag lang nur gerannt. Leilani zog den nassen Lappen zurück und lächelte traurig.
"Du hast uns die Silbertiefe zurückgebracht. Aber was hast du dafür aufgegeben?"
Delilah brachte kein Wort heraus. Leilani hielt ihr einen kleinen Spiegel hin. Erschrocken fuhr sie zurück. Ihre Augen... Früher waren sie dunkel gewesen, aber nun leuchtenden sie in einem intensiven Blau, wie es es nur das Meer machen konnte. Leilani hielt ihr ein mit farblosen Flecken übersätes Tuch entgegen.
"Ich hab dir etwas Blut abgewischt. Aber es war kein rotes Blut ... es war mehr ... wie Wasser."
Delilah fuhr sich durch die Haare. Es war viel auf einmal, aber sie hatte diese Entscheidung selbst und nicht ohne Grund getroffen.
"Danke, Delilah."
Es war ein Wort, aber es bedeutete der Diebin so viel. Mehr, als sie sagen konnte.
"Es gibt da noch jemanden, der sich bei dir bedanken möchte."
Leilani verließ die Kabine und ließ Delilah einige Minuten mit ihren Gedanken allein. Ihre Seele gehörte nun dem Meer. Es konnte nach ihr rufen, wann immer es wollte. Ihr Leben lag nicht mehr ganz in ihrer Hand. Doch sie bereute es nicht.
Die Kabinentür öffnete sich und Sin stürmte herein. Er sah Delilah kurz an, bevor er langsam auf sie zu ging und sie wortlos in eine heftige Umarmung zog. Delilah erwiderte sie und fragte sich, ob er sich jemals entscheiden würde. Sie wollte auf der Silbertiefe bleiben. Aber nicht so einem Käpt'n dienen. Seufzend vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter und wartete darauf, dass er etwas sagte. Schließlich löste er sich von ihr und sah sie nachdenklich an.
"Ich muss mich bei dir bedanken, Delilah. Du hast alles für dieses Schiff gegeben. Und du hast es mehr als verdient, ein Teil dieser Crew zu sein. Die Frage ist nur, ob du das auch willst."
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Sindbad (Märchenadaption)
AdventureIm Morgenland sind die alten Mythen und Legenden längst nicht verloren. In all den geheimnisvollen Gewässern treibt der junge Pirat Sindbad, kurz Sin, sein Unwesen. Für ihn zählt nur das räuberhafte Leben, bis er die gewiefte Diebin Delilah trifft...