Zwanzig

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Sin hatte Geduld. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Geduld. Die Crew bedankte sich ebenfalls bei Delilah und schien sie wirklich als vollwertiges Mitglied zu betrachten. Und ohne dass Sin ein Wort gesagt hatte, nahmen sie den Kurs nach St. Muerde wieder auf. Er war die meiste Zeit nur an Deck und fragte sich, was seine Männer nun über ihn dachten. Er hatte Delilah vom Schiff verbannt. Delilah, die ihre Seele für ihr aller Zuhause gegeben, sie vor den Sirenen gerettet und Jamaal aus dem Wasser gezogen hatte. Genau wie ihn. Und sie hatte immer nur die Freiheit gewollt. Seine Crew musste ihn für ein Monster halten. Leilani kam zu ihm, als hätte sie seinen Kummer gespürt.

"Was ist los, Sindbad?"

Er fuhr kurz zusammen. Sie war eine der wenigen, die ihn manchmal noch bei seinem vollen Namen nannten. Sie war ebenfalls schon auf der Silbertiefe gewesen, als er als Matrose anheuerte. Er musste schmunzeln bei der Erinnerung, wie sie Malik eine Standpauke gehalten hatte, weil der einen kleinen Jungen  wie Sin der See und dem Kommando von Käpt'n Culara hatte aussetzen wollen. Aber er hatte sich gut gehalten und inzwischen war ja er der Käpt'n. 

"Was denken die anderen über mich?", fragte er geradeheraus. 

Er hatte gar nicht bemerkt, dass Amir sie belauscht hatte. Er kam mit langsamen, aber bestimmten Schritten auf sie zu und blickte Sin fragend an.

"Was glaubst, was wir über dich denken?", murmelte er. "Und warum interessiert dich das überhaupt?"

Sin straffte die Schultern und reckte das Kinn vor.

"Ich will nicht wie Culara werden. Ein Käpt'n sollte immer zuerst an sein Schiff und seine Crew denken. Aber ich hab mich von Delilah ablenken lassen. Dann sie uns alle mehrmals gerettet und ich wollte sie von Bord werfen. Ihr müsst mich für genauso so einen Idioten wie ihn halten. Amir legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf.

"Du bist nicht Culara, Sin. Du bist ein guter Käpt'n, aber auch nur ein Mensch."

Sin bedankte sich wortlos mit einem festen Händedruck und sah zu seiner Crew. Ein paar hatten das Gespräch ebenfalls mitbekommen und lächelten ihm vertraut entgegen. Er atmete tief durch und stellte sich nach oben zu Malik neben das Steuerrad.

"Alle herhören!", rief er laut. "Wir alle wissen, wie unsere Situation aussieht. Wir sind nur wenige Tage von St. Muerde entfernt. Dort erwartet euch das, was wonach ihr alle lange gesucht habt: Die Chance auf ein Leben in Wohlstand und Freiheit. Wer danach gehen will, kann gehen. Aber bis dahin seid ihr immer noch meine Crew. Allerdings gibt es da eine Entscheidung, die ich euch überlasse. Delilah. Gibt es jemanden an Board, der sie nicht auf der Silbertiefe haben will?"

Schweigen. Sin grinste.

"Damit wäre das entschieden. Auf nach St. Muerde, ihr Landratten!"

Zustimmendes Gejohle ging über das Deck. Amir und Leilani lächelten und Sin wusste, dass er als Käpt'n gar nicht so übel war.

*

Delilah verließ ihre Kajüte nicht, bevor es dunkel wurde. Erst, als die meisten schliefen schlich sie sich auf das Deck und betrachtete den klaren Sternenhimmel. Der Mond schien in einem beinahe gespenstisch düsteren Ton und die Wellen schienen hin und wieder beinahe aggressiv gegen den Bug zu schlagen. Sie waren nicht mehr weit entfernt. Diese Erkenntnis traf Delilah wie einen Schlag. Sie war mit dem Meer verbunden, was nicht bedeutete, dass es sie vor seinen Flüchen schützte.

Du hast Angst

Die Stimme kam plötzlich, aber sie erschrak nicht.

Nein, hab ich nicht

Deine Seele gehört mir, Kind. Du kannst mich nicht belügen

Die Stimme klang eher amüsiert als verärgert.

Was interessiert es dich, ob ich Angst habe? Wenn ich sterbe, hast du mich ganz für dich allein. Machst du mich dann auch zu einer Sirene?

Dazu bist nicht hübsch genug

Delilah klappte der Mund auf. Sie hätte dem Meer einiges zugetraut, aber schwarzen Humor sicher nicht.

Wie charmant

Ihr seltsames Gespräch wurde von Malik unterbrochen, der sich neben Delilah an die Reling lehnte. Als er ihren missmutigen Blick sah, begann er zu lachen.

"Keine Angst, Kleine. Ich frage dich nicht, ob du dich schon entschieden hast."

"Was willst du dann von mir?"

"Wie fühlst du dich?"

Delilah riss erstaunt die Augen auf. "Wie bitte?"

Malik lächelte leicht, aber sein Ausdruck wirkte besorgt. "Du hast deine Seele hergegeben. Das ist kein Kinderspiel, Delilah. Ich hab das schon mal bei einer Person gesehen. Hörst du eine Stimme? Leilani hat mir von deinem Blut erzählt. Und die blauen Augen sind ja kaum zu übersehen. Sie sehen geradezu unecht aus. Wie das Wasser in Bane Song Bay."

Delilah verkrampfte sich. "Ja.", gab sie widerwillig zu. "Ich spreche mit dem Meer. Aber sag Leilani, sie soll das mit dem wässrigen Blut nicht rumerzählen. Du genauso wenig."

Malik grinste. "Wer soll es denn nicht erfahren?"

Delilah funkelte ihn böse an, bevor sie sich umdrehte und ans andere Ende des Schiffes stampfte.

Sindbad (Märchenadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt