Kapitel 1

115 2 0
                                    

Samuel.

Man musste den Namen auf sich wirken lassen. Man spricht es verschieden aus und so, wie man es ausspricht, so stellt man es sich auch vor. Ich stellte mir darunter einen großen, blonden Mann mit sympathischem Lächeln vor. Ob der Samuel, den ich kannte, freundlich und sympathisch war? Nein. Er war nur einen Kopf größer als ich, dunkelblond und hatte diese mysteriöse Aura um sich. Er erzählte viele Geschichten, die meisten davon gelogen, das merkte man nach den ersten Sätzen. Trotzdem wollte man sie bis zum Ende hören.

Als ich neu in die Wohnung gezogen war, hatte ich so viele Kartons rumstehen, dass das riesige Wohnzimmerfenster zugestellt war. Nach und nach verschwanden die Kartons und ich konnte aus dem Fenster sehen. Manchmal beobachtete ich die Vögel in einem nahegelegenen Baum oder die Menschen auf der Straße, aber am meisten faszinierte mich ein altes Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich bin schon oft daran vorbei gelaufen und ziemlich sicher, dass es verlassen war. Den Schildern nach sollte das Haus bald abgerissen werden. Obwohl es heruntergekommen und baufällig war, sprach es mich an. Vielleicht gerade deshalb. Nach ein paar weiteren Monaten hatte ich dann den Mut gefasst und das Haus betreten. An den meisten Wänden war die Tapete bereits abgeblättert, die Decke war an den Fenstern von Schimmel befallen. Ein Teil des Treppengeländers war zerstört und nirgendwo gab es Licht. Die Räume wurden bloß durch die Abendsonne beleuchtet. Auf einem Plastiktisch stand ein Bilderrahmen, in dem mehrere Fotos steckten. Auf den Fotos war ein Paar zu sehen, auf einigen war es zusammen mit einem kleinen Mädchen.

„Was machen Sie hier?“  Der Mann hatte lautlos den Raum betreten.

„Dasselbe könnte ich Sie fragen. Soweit ich weiß, steht das Haus leer.“

„Deshalb frage ich.“ Der Mann lehnte sich in den Türrahmen und musterte mich.

„Ich wollte nur... Ich hab nur...“ Ich fand keine plausible Erklärung. Außer, dass ich neugierig war.

„Wohnen Sie hier?“ Der Mann sah auf die Bilder auf dem Tisch.

„Nein, ich arbeite hier. Das Haus soll renoviert werden.“

„Auf den Schildern steht, es wird bald abgerissen.“

„Ich bin Bauleiter und muss ein paar Vorkehrungen für die Renovierung des Hauses treffen.“ Ich sah mich um.

„Und bis zum Bau wohnen sie hier?“

„Wie ich bereits sagte, wohne ich nicht hier.“ Er klang nicht sehr überzeugend. Ich sah zu dem Tisch. Darunter lag ein Koffer, der offensichtlich ihm gehörte. Der Mann bemerkte meinen Blick, er setzte sich an den Tisch und nahm den Bilderrahmen in die Hand. Ich rührte mich nicht von der Stelle.

„Sie gehen jetzt.“

„Also wohnen Sie doch hier.“

„Gehen Sie.“ Noch immer rührte ich mich nicht.

Der Mann hatte mich vorher nicht aus den Augen gelassen, doch jetzt entwich er meinem Blick und wandte sich ab.

„Ich wollte nicht...“ Ich fühlte mich, als hätte ich etwas Falsches gesagt.

„Gehen Sie.“ Ich setzte mich an den Tisch. Der Mann sah mich an, plötzlich wirkte er extrem erschöpft. Er öffnete den Mund, wahrscheinlich, um mich endgültig wegzuschicken, klappte ihn dann aber wortlos wieder zu und lächelte schwach. Ohne zu überlegen, sprach ich aus, was ich dachte.

„Sie können auch mit zu mir. Ich wohne hier in der Nähe.“

„Gegenüber, ich weiß.“

Samuel and CloeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt