Die gute Laune hielt sich stramm in Grenzen, sobald ich das Klassenzimmer betrat. Die skeptischen Blicke meiner Mitschüler entgingen mir nicht und ich ahnte bereits, dass irgendein Mist auf Facebook gepostet worden ist. Dafür ist der gestrige Abend sicher perfekt ausgelegt gewesen.
Weitestgehend ging ich ihnen aus dem Weg und begrüßte zuerst Ethan, der - wie in jeder anderen Stunde auch - allein in der ersten Reihe seinen Platz eingenommen hat. Kurz hob er den Kopf an und rang sich zu einem schwachen Lächeln.
"Guten Morgen", murmelte er und beugte sich wieder über seinen Block voller Sudoku-Rätsel. An seiner Stelle hätte ich längst aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen, welche Zahl ich in welches Feld schreiben sollte.
Ich wäre bestimmt wahnsinnig geworden.
"Geht es deinem Auge besser?" Erneut schaute er mich träge an und zuckte mit den Achseln. Immer noch war es angeschwollen, allerdings ist es um Einiges besser, wie gestern.
"Ja...", seufzte er und schmunzelte tapfer. "Tut wenigstens nicht mehr weh."
Er trommelte mit dem Bleistift auf seinem Block herum. Wahrscheinlich wollte er in Ruhe gelassen werden, weshalb ich nickte und ihm eine 'Gute Besserung' wünschte, bevor ich mich an ihm vorbei bewegte.
Merkwürdigerweise ging mein Platz heute nicht leer aus, denn eine Postkarte lag in der Mitte der Tischplatte. Kurzerhand griff ich nach ihr und wendete sie zwischen meinen Fingern.
"Du bist niedlich", las ich im Flüsterton die drei kleinen Worte und ließ mich verwirrt auf meinen Stuhl fallen. Nach all den Beleidigungen und Quälereien erhielt ich nicht ernsthaft Komplimente?
Die Pussycat hatte eindeutig Stimmungsschwankungen, denn hier konnten nur die Hormone ihre Finger im Spiel gehabt haben.
"Ashley!", trällerte Marie lautstark und ließ mich vor Schreck zusammenzucken. Hektisch verstaute ich die Karte in meiner Tasche.
Breit grinste sie mich an und warf sich ihre Haare über die Schulter.
"Gestern bin ich einkaufen gewesen!", verkündete sie voller Stolz und zwinkerte mir vielsagend zu. "Du weißt schon, für unseren Mädelsabend!"
Hoffentlich ist sie beim Einkaufen nicht auf dämliche Ideen für den morgigen Abend gekommen.
"Und weißt du, der Verkäufer ist so unglaublich niedlich gewesen, dass ich ihn nach seiner Nummer gefragt habe!", quietschte sie und klatschte begeistert in ihre Hände. "Und ob du es mir glaubst oder nicht: Morgen haben wir ein Date!"
Sie kreischte beinahe in mein Ohr.
Unsere Mitschüler starrten sie mit schiefen Köpfen an und schienen sich zu fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank hatte.
"Das Problem ist eben, dass wir den Abend verschieben müssen, Ash. Sorry, aber Luca, so heißt er, hat diese Woche nur noch morgen Zeit. Ich wollte mich nicht noch später mit ihm verabreden. Ansonsten müsste ich wohl tagtäglich einkaufen gehen, um ihn wiederzusehen und nicht sehnsüchtig zu vermissen..."
Zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte sie eine ihrer roten Haarsträhnen hin und her.
Normalerweise wäre das für mich kein riesiges Problem gewesen, da ich ursprünglich sowieso wenig Lust gehabt hatte, den Abend mit ihr verbringen zu müssen. Trotzdem war ich ein bisschen enttäuscht, denn sie sagte wegen einem Jungen ab, den sie fünf Minuten lang im Supermarkt an der Kasse gesehen hat.
"Was ist denn eigentlich mit Shawn? Heute habe ich ihn noch gar nicht gesehen. Der lungert doch immer mit Oliver in den Ecken rum", sagte sie dann und sah mich nun direkt an.
Nun ja, Shawn lag bei mir zuhause immer noch tief und fest schlafend im Bett.
Die gescheiterten Versuche, ihn aufzuwecken, bestanden lediglich darin, dass ich über längere Zeit an seinem Arm gerüttelt und mehrmals seinen Namen gesagt habe. Im Normalfall hatte er keinen derartig tiefen Schlaf, aber das musste wohl an dem Zeug liegen, das ihm untergemischt worden ist.
Deshalb habe ich meinen Eltern erzählt, dass er krank sei und sie ihn aus diesem Grund nicht stören sollten. Auf meinen Nachtschränkchen habe ich dann einen Zettel gelegt, damit Shawn von meinem 'Plan' Bescheid weiß und er vor ihren Augen auf schwer krank tun sollte.
"Weißt du, ich frage mich echt, ob ihr noch zusammen seid. Auf Facebook wurden von dieser dämlichen Seite ja diese Bilder gepostet, auf denen du ziemlich oft mit einem anderen Jungen zu sehen bist." Marie nahm ihr Handy in die Hand und zeigte mir einige der gefakten Bilder. Die sind alle in den letzten Tagen gepostet worden und auf jedem war ich mit Samuel zu sehen.
Vom einfachen Händchenhalten bis zu intimeren Kussbildern war so gut wie alles dabei. Unsere Köpfe sind so perfekt eingesetzt worden, sodass die Fotos leider unglaublich realistisch wirkten.
Es ist eine gute Entscheidung von mir gewesen, den Account zu löschen, mein Handy zu leeren und nicht mehr zu benutzen.
"Die Bilder sind nicht ech-", setzte ich an und wurde von Maries schrillem Lachen unterbrochen.
"Oh mein Gott, Ash! Du bist Auto gefahren?", kicherte sie und hielt mir ihr Handy unter die Nase. "Und dann auch noch voll in das andere rein. Ich glaube es nicht!"
Brummend schaute ich weg, weil es den gesamten Ablauf zeigte, der zwar nur zehn Sekunden lang und dennoch intensiv war. Man konnte genaustens sehen, wie ich rückwärts in das andere Auto reinknallte.
Wenn das irgendwelche Polizisten sehen würden, könnte ich die ganze Sache meinen Eltern nicht länger verschweigen. Dazu müsste ich echt verdammt viel Glück haben.
"Mach' das bitte aus", bat ich sie mit drängendem Nachdruck in der Stimme, worauf sie ihr Handy stöhnend ausschaltete und mich erwartungsvoll anblickte. "Kannst du das Profil irgendwie melden?"
"Melden? Wieso melden?", fragte sie entgeistert und sobald ich den Mund zum Antworten öffnete, fuhr sie bereits fort. "Warum hast du eigentlich kein Facebook mehr? Ich habe dir geschrieben, weil du mir auf WhatsApp nicht geantwortet hast. Du bist seit zwei Tagen nicht mehr online gewesen. Wie schaffst du das nur? Apropos online, ich muss später Luca nochmal wegen morgen schreiben!"
Sie war die Meisterin der Ablenkung und sie ist meine beste Freundin gewesen.
"Hey, ich habe die letzten Tage die Nachrichten verfolgt", setzte Marie zu einem ganz anderen Thema an. "Vor zwei Tagen haben sie ja das mit der toten Katze gebracht. Gestern haben sie nochmal dazu aufgerufen, dass die Person, die mit der komischen Karte angesprochen wurde, dringend zur Polizei gehen sollte. Außerdem haben sie ihre Ermittlungen gestartet. Das arme Kätzchen, mann! Wie kann man nur so unmenschlich sein? Trotzdem wundert es mich, dass sie ein totes Tier in den Nachrichten bringen... irgendwie komisch, oder?"
Stimmt. Da hatte sie ausnahmsweise Recht.
DU LIEST GERADE
PUSSYCAT ✓
Детектив / ТриллерEin schrecklicher Unfall hat sich tief in Ashleys Gehirn eingebrannt. Der Tod eines unschuldigen Jungen und all die grausamen Erinnerungen holen sie leider immer wieder ein. Fast ein Jahr nach diesem Unfall scheint sich plötzlich ein Irrer auf freie...