Prolog

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 Caitlyn


Calvin starrt mich mit einem derart durchbohrenden Blick an, dass ich wortwörtlich das Gefühl habe, er könnte mich mit seinen bloßen Augen umbringen.

Doch nicht sein finsterer Blick droht mich zu töten, sondern die Desert Eagle, eine halbautomatische Handfeuerwaffe, die er in seiner zitternden Hand hält.

Wenige Minuten zuvor saß ich nicht auf diesem alten, klapprigen Holzstuhl in einem leeren, modrigen und wahrscheinlich schon längst vergessenen Lagerraum in Houghton. Nein, ich saß in meinem Himmelbett im Apartment meiner Eltern, welches sich im Pembroke befindet.

Erst vor kurzem zog ich von New York City nach Houghton,Michigan, einer kleinen Stadt mit knapp 3.000 Einwohnern. Hier, so sagten meine Eltern, sollte alles - nach dem kleinen Fauxpas meines Vaters - viel besser werden.

„Caitlyn, antworte!", schreit Calvin und drückt den eiskalten Lauf seiner Desert Eagle gegen meine Schläfe.

Er will Antworten. Antworten auf Fragen von solch einer Wichtigkeit, dass sie der Tod von einem Menschen bedeuten könnten, wenn ich sie der falschen Person preisgeben würde.

Ich schüttele den Kopf und schließe meine Augen. Mein Herz rast so schnell, dass ich befürchte, es könnte mir aus der Brust springen. Vor Angst und vor Nervosität werden meine Hände schwitzig und mein ganzer Körper beginnt zu zittern.

Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst davor, zu sterben. Und noch nie zuvor war ich mir so sicher, mein Leben könnte ein frühzeitiges Ende nehmen.

Kurz öffne ich meine Augen, um Calvin anzusehen. „Du musst das nicht tun", sage ich leise, in der Hoffnung, er würde die Hand, in der sich die Waffe befindet, sinken lassen. Doch um ehrlich zu sein erwarte ich nicht, dass dieser Satz irgendetwas in ihm bewegt. 

Und das tut es wohl auch nicht, denn er drückt den Lauf der Desert Eagle nur noch fester gegen meinen Kopf und augenblicklich kneife ich meine Augen zu, in der Hoffnung, im Bett aufzuwachen, wenn ich sie wieder öffne. So, wie in einem Märchen.

Doch weder ist dies das Wunderland, noch bin ich Alice. Dies muss ich schmerzlich erkennen, als ich meine Augen langsam wieder öffne.

Kein weißes Himmelbett, keine weichen Kissen. Nur ein völlig durchschwitzter Teenager, der nicht nur eine entsicherte Schusswaffe in der Hand hält, sondern auch mein Leben. 

Ein Teenager, dem ich bis vor einigen Wochen noch bei den Mathehausaufgaben half.

Ich höre ein Klicken, welches von Calvins Waffe zu stammen scheint und ich befürchte, dass er soeben seine Pistole entsichert hat.

Oh Gott, bitte, denke ich und eine warme Träne rollt meine Wange hinunter, als ich meine Augen wieder schließe, da ich seinen durchbohrenden Blick nicht länger ertragen kann.

Dann, ein Schuss, so laut, als säße ich direkt neben einer riesigen Bombe, die neben mir explodiert und alles in unmittelbarer Nähe mit sich reißt und zerstört.

Kurz darauf Stille, gefolgt von der Erkenntnis, dass es gar nicht still ist, sondern dass die modrige, nasse Lagerhalle gefüllt wurde. Gefüllt von einem schrillen Schrei, welcher aus meinem Mund kommt und meinen gesamten Körper durchfährt.

A modern tragedyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt