Kapitel 1

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„So willst du in die Schule gehen?" diese tiefe Stimme gehörte meinem Dad, der wie immer morgens im Türrahmen meines Zimmers stand, und nachsah, ob ich schon aufgestanden war. Ich sah fragend zu ihm auf. Mit skeptischem Blick musterte er mich, wie ich vor meinem Spiegel stand und gerade ein neu gekauftes und perfekt aufeinander abgestimmtes Outfit betrachtete. Dad war sehr groß und hatte genauso eine blonde Naturkrause wie ich, außerdem blitzten große dunkle Augen unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Er war sehr kräftig gebaut, nur ein leichtes Bäuchlein war ihm mit der Zeit zugestanden worden. Was mich eigentlich wunderte, da mein Vater selten trank und als Bauarbeiter arbeitete. Trotzdem fand ich, wie alle anderen Kinder auch , dass mein Dad absolut und unumstritten der Beste war. Bis auf seinen wenig ausgeprägten Geschmackssinn- in Sachen Aussehen. Er trug vermutlich noch immer die gleiche Art von Shirts, die er auch vor 30 Jahren getragen hätte. Das war vermutlich auch der Grund, warum er jeden Morgen etwas an meinem Kleidungsstil auszusetzen hatte. Wir waren einfach eine komplett andere Zeit.

„Bunte kurze Hosen sind diesen Sommer total angesagt, Dad!" protestierte ich. „Und Tops aus Spitze auch!" Ich zeigte auf ein Magazin, dessen aufgeschlagene Seite den Titel „Mode-Trends 2014/15" trug. Missbilligend ging Dad darauf zu und nahm es in die Hand. „Aber musst du dazu gerade Stiefel anziehen?" „Das sind Biker-Boots, Dad." „Heikabuhts? Noch nie gehört. Gehört anscheinend auch zu den Mode-Trends 2014/15 was?" Seufzend legte er das Magazin wieder auf den Schreibtisch zurück. „Na, egal. Du solltest dich beeilen, es ist schon spät." Als er sich wieder auf den Weg in die Küche gemacht hatte, betrachtete ich mich nochmal im Spiegel. Sah ja alles recht hübsch aus. Korallenfarbene Shorts, ein weißes kurzärmeliges Spitzenoberteil, das transparent war und unter dem ich deswegen ein hellgraues Bandeau trug, eine silberne Kette mit einem Delfin dran und braune Bikerboots mit silbernen Schnallen. Meine Haare und mein Gesicht waren mir egal, denn ich fand, dass ich ohne Make-Up besser aussah. Außerdem wäre es vergeblich gewesen, mir die Haare zu kämmen oder gar irgendeine Frisur auszuprobieren- meine Haare waren widerspenstig und der Kamm hätte sich vermutlich verheddert und das Herauslösen hätte mehr Knoten gemacht als sowieso schon waren. Also beließ ich alles bei dem wie es war und packte meine Schultasche. Als ich in die Küche kam, bemerkte ich bei einem Blick auf die Uhr, dass es wirklich schon spät war. Dad, meine Zwillingsschwester Fabienne, meine zwei Brüder Sebastian und Lucas saßen schon am Tisch. Molly, meine ältere Schwester war schon zur Arbeit gefahren.

Ich hatte eine große Familie. Ich hatte außerdem gefühlte hunderte Verwandte, von denen ich mehr als die Hälfte nicht kannte, und die in regelmäßigen Abständen zu uns kamen, um das Grab, das Meer, oder im seltenen Fall, einfach nur uns besuchen wollten. Ja, richtig, Grab. Ich verlor meine Mutter als ich 8 war. Dad sagte, sie wäre an Krebs gestorben. Ich war in dieser Zeit bei meiner Großmutter in Ohio gewesen. Als ich heimkam, erzählte Dad mir davon. Ich hatte es nicht fassen können und war komplett fertig. Ich hatte einige Wochen, Monate, fast Jahre Schule geschwänzt, fing mit neun zu rauchen an. Ich kannte keinen in meiner Klasse, ich fehlte einfach zu oft. Nur manchmal kam ich in die Schule, w mich die meisten aber eher schief anschauten . Ich klammerte mich an Fabienne, die diesen Schmerz besser verkraften konnte als ich und hatte keine Freundin- bis ich 12 war, da traf ich Vivi. Und von da an ging es mit mir wieder bergauf, meine Schulnoten wurden besser, ich fand Freunde und schließlich wurde Vivi meine beste Freundin. Erst zu dieser Zeit war ich bereit, alles hinter mir zu lassen und von neu anzufangen.

Mum wurde erst Wochen nach ihrem Tod begraben. An den Tagen davor trudelten die Verwandten ein und sprachen über die Ereignisse. Ich war wie betäubt, konnte nicht zuhören- und versteckte mich in meinem Zimmer. Meine Cousinen kannte ich nicht wirklich, wir lebten einfach zu weit abgeschieden von unserer Familie. Am Tag des Begräbnisses konnte ich nicht weinen. Das konnte ich sowieso nicht, ich hatte keine Gefühle, war komplett abgestumpft.

The Ocean - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt