Durch ein schmerzhaftes Pochen auf die Schulter geweckt schaute ich mich müde im Zimmer um. Mir gegenüber stand ein junger, grimmig aussehender Mann - der Mann, auf den ich gerade überhaupt keine Lust hatte: Matti.
Erschrocken wollte ich aufspringen, spürte aber Timeas Gewicht auf mir. Über Nacht hatte sie sich wohl immer stärker gegen mich gelehnt, sodass sie nun vom Hocker fallen würde, sobald ich aufstand. Behutsam drehte ich sie so, dass sie sich an Fannis Geräte schmiegen konnte.Nun sprang ich eilig auf und wollte mich eigentlich wortlos an Matti vorbeidrängen, doch dieser hielt mich am Arm fest. Grob zog er mich hinter sich her, durch das gesamte Gebäude, zahlreiche Treppen nach oben, bis wir die Dachterrasse erreichten. Dort stoppte er aber immer noch nicht. Von mir mit immer heftigerer Gegenwehr quittiert steuerte er die Kante an. Hatte ich schon erwähnt, dass ich Höhenangst habe? Dementsprechend begannen meine Knie unkontrolliert zu zittern, meine Füße gehorchten mir nicht mehr und ich bekam keine Luft, als ich die stark befahrene Straße unter uns erblickte.
Meine Fußspitzen schwebten bereits über dem grausamen Abgrund, da ließ Matti mich los. Zur Salzsäule erstarrt, mal wieder, wartete ich auf den Stoß, den der junge Mann mir versetzen würde, um mich endlich loszuwerden. Mein Herz klopfte lauter als eine Armada Helikopter, meine Sicht verschwamm leicht, wodurch ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Der Stoß blieb zu meiner Überraschung aber aus, weswegen ich mich mit einem Sprung nach hinten aus dem Gefahrenbereich brachte.
Matti saß einige Schritte von mir entfernt auf dem Dach und musterte mich abschätzig. Machte er sich insgeheim gerade über mich lustig, da ich sehr offensichtlich unter Höhenangst litt? Oder fragte er sich gerade, was er mit mir anstellen sollte, damit ich seinem Mädchen nicht mehr zu nahe kam?»Was mache ich falsch?«
Verwirrt sah ich ihn an. Er hatte mich sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen, hatte mich durch das gesamte Krankenhaus geschleift und mich an der Dachkante tausend Tode sterben lassen, um mich nun so etwas zu fragen?
Unter diesen Umständen brachte ich nur ein »Inwiefern?« heraus.
»Timea scheint momentan unzufrieden mit mir zu sein, Fannis Hass auf mich wird immer größer und du scheinst mich auch nicht gerade zu mögen«, lautete die einfache Antwort.
Nun hatte ich das Gefühl, mich ihm gegenüber rechtfertigen zu müssen.
»Naja, ähm, bei den Mädchen kann ich dir auch nicht helfen, aber mit mir hast du es dir verdorben, als du mir nicht die Hand zur Begrüßung gegeben hast«, versuchte ich es höflich zu formulieren. »Außerdem schienst du nicht wirklich Interesse an mir zu haben. Und, entschuldige meine Direktheit, du wirkst so alt - zu alt für Timea.«
»Du findest mich also alt?«, knurrte er erbost, »Ich bin gerade einmal 24.«
Er schien allgemein ein eher brummliger, eigenbrödlerischer Typ zu sein, weswegen ich die Erwiderung nicht persönlich zu nehmen versuchte.
Noch überraschter und verwirrter wurde ich allerdings, als er mir mit den Worten »Matti Seiler, komme aus Kiel, also Deutschland« die Hand entgegenstreckte.
Mit gerunzelter Stirn schlug ich ein und setzte mich neben ihn. Gemeinsam blickten wir über das vom Morgennebel verschleierte Miskolc. Dieser wundervolle Anblick ließ mich für einen Moment meine Trauer, Fannis Gesundheitszustand und die Probleme, die ich mit Matti gehabt hatte, vergessen.
Nach einer Weile stand der Rothaarige neben mir auf. Wortlos machte er sich auf den Weg zur Tür, die ihn wieder ins Krankenhausinnere führen würde. Eilig folgte ich ihm, da ich nicht allein auf dem Dach zurückbleiben wollte.
Entgegen meiner Erwartungen ging er nicht nach Timea sehen, sondern steuerte den Ausgang an. Ich zögerte. Um diese Uhrzeit, es war halb 6, musste ich eigentlich noch nicht zur Bar laufen, zu Hause wurde ich wahrscheinlich eben so wenig erwartet. Im Klinikum brauchte mich allerdings auch gerade niemand. Dennoch könnte ich zu Timea und Fanni zurückkehren und noch einen Hut voll Schlaf nehmen - oder hieß es "eine Mütze voll Schlaf"? Matti nahm mir die Entscheidung glücklicherweise ab.
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Arany Város - Einsam in der Goldstadt
General Fiction================== Gute Freunde sind wie Sterne: Man sieht sie nicht immer, aber man weiß, dass sie immer für einen da sind. ================== Der 19-jährige Sebastián vermisst seine Heimat Ecuador. Seit er mit seiner Familie vor 5 Jahren nach Misk...