Als ich unsere Wohnung betrat, erschreckte ich mich zu Tode. In der Wohnküche brannte noch Licht und meine Familie sah mich in der Tür stehend kummervoll an.
Langsam ging ich auf sie zu. Mein kleiner Bruder nahm mich in den Arm; Tränen bahnten sich einen Weg über sein Gesicht. Dann fasste er meine Hand und führte mich an den alten, knarzenden Küchentisch. Meine Eltern und meine Schwester setzten sich tonlos.
»Was ist denn hier los? Könntet ihr mich bitte mal aufklären?«, fragte ich ängstlich. Die Furcht vor ihrer Antwort nahm mir fast die Stimme.
»Wir haben heute Morgen einen Brief aus Ecuador erhalten. Von Arthuro. Chiara ist vor 4 Tagen...«, das Gesicht meiner Mutter verkrampfte sich kurz, »...an Leukämie gestorben. Arthuro und die anderen Familien haben Geld für die Medikamente gesammelt und gespart, wo es nur ging. Aber es hat nichts genützt... Sie hat es nicht geschafft.«
Die raue Stimme meiner Mutter war nun so leise, dass ich die letzten Worte kaum noch verstand. Und auch der Inhalt ihrer Worte war unbegreiflich für mich. Bis mich schließlich eine Sturmflut an Gefühlen überrollte.
Ich sprang auf und eilte hinaus, die Treppen hinunter, raus auf die Straße. Dort glitt ich langsam an der Hauswand nach unten und ließ zu, dass mich eine Sturmflut an Gefühlen erschlug. Viele Tränen rollten über mein Gesicht und ließen meine Augen rot anschwellen.
Bilder von Ecuador kamen mir in den Sinn. Bilder von Chiara, meiner besten und längsten Freundin. Ich sah vor meinem inneren Auge, wie ihre Haare feuerrot im Licht der Abendsonne geleuchtet und sie mich angelächelt hatte. Wir hatten an unserem Lieblingsplatz gesessen: dem Dach des "Hauses", dass sie sich mit ihrem Vater Arthuro teilte. Eine Wellblechhütte, die wir inzwischen mit Holzbalken wetterfester und mit Farbe bunter gemacht hatten. Ich hatte zurück gelächelt, dann hatten wir uns aneinander gelehnt und den gemeinsamen Moment genossen.
Ich erinnerte mich an ihren 15. Geburtstag, den der gesamte Slum gefeiert hatte. Aus Müll gebastelte Girlanden hatten die Gassen zwischen den ärmlichen Häusern geschmückt, leckere Speisen waren zum Esstisch vor Chiaras Haus getragen worden. Feierstimmung und gute Laune lagen in der Luft. Arthuro hatte mit seiner Band "Heartbeat of Slum" lockere, fröhliche Lieder angestimmt. Viele hatten sich tanzend zur Musik bewegt.
Nach dem Essen hatte Chiara mich dazu aufgefordert, ein Lied mit ihr zu singen.Die Aufregung von damals stieg wieder in mir auf. Ich hatte zuvor noch nie vor Publikum gesungen. Außer Arthuro, der mir Musikunterricht gegeben hatte, und Chiara, die meine Gesangspartnerin gewesen war, wusste niemand von meiner Liebe zur Musik. Ich erinnerte mich nun daran, wie ich erst die falschen Akkorde auf der Gitarre gespielt und dann vorübergehend meine Stimme eingebüßt hatte. Doch Chiara hatte mich gezwungen, in ihre blauen Augen mit den hübschen, braunen Sprenkeln zu sehen. Danach war alles ein Leichtes gewesen: meine Finger hatten die richtigen Saiten und meine Stimme die korrekten Töne gefunden. Stolz und leidenschaftlich hatten wir das Lied vorgetragen, und unser Publikum war begeistert gewesen.
Die letzte Erinnerung an Chiara war unser Abschied. Eigentlich sollte es nie ein Abschied für immer sein, aber nun war es einer. Ich erinnerte mich daran, wie wir ein letztes Mal zusammen auf dem Dach gesessen und den Sonnenaufgang beobachtet hatten. Eine komische Mischung aus Trauer und Neugier hatte in der Luft gelegen. Chiara war danach mit zum Flughafen gekommen; hatte uns mit dem Gepäck geholfen. Als wir in Richtung Check-In gegangen waren, hatte ich mich zu ihr umgedreht und sie in den Arm genommen. Minutenlang hatten wir so da gestanden. Unsere Tränen hatten das Oberteil des jeweils anderen durchnässt. Erst nach einer kleinen Ewigkeit hatten wir uns losgelassen. Chiara hatte mir in die Augen gesehen und mich geküsst. Doch nicht aus Liebe, sondern aus Verzeiflung. Sie hatte einerseits Angst davor gehabt, mich zu vergessen und andererseits, von mir vergessen zu werden.
Sie hatte meine Eltern und Geschwister wie in Trance umarmt. Bevor sie ging, hatte sie mir noch einen Brief gegeben und mir das Versprechen abgenommen, ihn erst in Ungarn zu öffnen. Und dann war sie weg gewesen. Dann war meine beste Freundin für immer aus meinem Leben verschwunden.
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Arany Város - Einsam in der Goldstadt
Ficção Geral================== Gute Freunde sind wie Sterne: Man sieht sie nicht immer, aber man weiß, dass sie immer für einen da sind. ================== Der 19-jährige Sebastián vermisst seine Heimat Ecuador. Seit er mit seiner Familie vor 5 Jahren nach Misk...