Kapitel 2

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"Marie! Hast du uns was zu Essen mitgenommen?"

Ich hatte extra versucht leise zu sein, doch er hatte mich gehört. Ohrfeigen könnte ich mich dafür, ohrfeigen.

"Nein Vater. Bestellt euch doch was!", rief ich in das Wohnzimmer zurück. Schnell zog ich mir die Schuhe und die Jacke aus, damit ich so rasch wie möglich in mein Zimmer kam. Eine Konversation mit meinem Vater wollte ich so gut wie möglich vermeiden.

"Marie.", säuselte er. Er war schneller im Vorzimmer gewesen, als mir lieb war. "Ich dachte, du seist ein gutes Kind und bringst uns was zu Essen mit." Mit uns waren er und seine zwei Freude gemeint, die laufend zu uns nach Hause kamen, um sich gemeinsam zu betrinken. Anscheinend hatten sie allesamt so ein schlechtes Leben, dass sie sich mit Alkohol besaufen mussten.

"Ich habe euch die letzten Male auch nichts mitgebracht. Ich denke, ihr seid alt genug, um euch etwas zu bestellen." Ich wurde sauer. Denn ich hasste es meinen Vater so betrunken zu sehen. Vormittags ging es ja noch, doch je später es wurde, desto unerträglicher wurde er und desto mehr Alkohol hatte er intus.

"Siehst du nicht wie schlecht es mir geht?", jammerte er und ließ den Türrahmen los, um auf mich zu zukommen.

Instinktiv wich ich einen Schritt zurück. Ich mochte es zwar nicht gerne zugeben, doch ich hatte Angst vor meinem Vater. Es war schon eine halbe Ewigkeit her, dass er mich im Vollrausch geschlagen hatte, dennoch sperrte ich sicherheitshalber immer meine Zimmertür von innen ab und ließ den Schlüssel stecken. Kein Kind wollte gerne zugeben, dass es Angst vor seinem eigenen Vater hatte, doch er war nun einmal mein Vater und ich musste damit leben.

"Wo sind denn Karl und Thomas?", wollte ich von ihm wissen, um ihn wieder an etwas anderes denken zu lassen.

"Ach, die sitzen vor meiner Glotze und schauen Fußball. Wie immer, du weißt schon.", er lächelte und zog den Rotz von seiner Nase hoch. "Hast du ein Taschentuch für mich?", fragte er. Hastig suchte ich in meiner Tasche nach einem Taschentuch und reichte ihm dann eines.

"Ich gehe in mein Zimmer.", meinte ich, und wollte mich an ihm vorbeidrängen. Doch er schien sich plötzlich wieder an etwas zu erinnern und stoppte mich. 

"Hast du uns schon was zu Essen bestellt?"

Ich seufzte und rollte meine Augen. Ich beschloss, ihnen einfach etwas von meinem Zimmer aus zu bestellen, und bejahte seine Frage also. "Ja, habe ich. Müsste bald ankommen."

"Du bist ein gutes Kind. Danke." Er strich mir mit seinen fettigen Händen über die Haare und wandte sich von mir ab, um wieder zu seinen Kumpels zu gehen. Ich ließ die angehaltene Luft aus mir raus und lief die Treppen nach oben, bis ich mein Zimmer erreichte. Dort sperrte ich mich ein und ließ wie immer den Schlüssel stecken. Zitternd setzte ich mich ans Bett und bestellte drei Pizzen für die Herren, einen Stock tiefer. Zwar hatte ich Mitleid mit dem Lieferservice, doch die würden mit meinem Vater schon klarkommen. Alles was ich jetzt wollte, war endlich zu schlafen. Denn dieser Tag war wieder einmal zum wegwerfen gewesen. Nicht nur, dass mich Lukas, der Sohn des Konditoreiinhabers, besucht und ermahnt hatte, sondern auch, dass ich überhaupt in diese Situation gekommen war. Das nächste Mal sollte ich mich vielleicht doch auf einen kostenpflichtigen Parkplatz stellen. Dann musste ich mir das Gejammer um die Kundenparkplätze nicht ständig anhören. Außerdem hatte mir Lukas deutlich klargemacht, dass es ihn ankotze, mir immer wieder das gleiche sagen zu müssen. Was ich auch irgendwie verstehen konnte.

"Wo ist Corinne? Wo ist meine Frau?" Ich stand perplex vor meinem Vater. Meine Mutter war schon lange tot.

"Papa? Mama lebt nicht mehr." Ich konnte nicht verstehen, wie er dies vergessen konnte. Zaghaft ging ich auf ihn zu, um ihn zu umarmen. "Wir haben nur noch uns zwei.", sagte ich leise. Denn auch ich war traurig über den Verlust meiner Mutter. Wie gern ich ihr doch oft etwas erzählen wollte. Zum Beispiel von meinen guten Noten in der Schule, oder, dass mir der Junge aus der Nebenklasse einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. Mit meinem Vater konnte ich solche Dinge nicht bereden, noch dazu, interessierte es ihn nicht, welche Noten ich in der Schule hatte. Er redete kaum noch mit mir, seit Mutter tot war und zu versorgen hatte ich mich quasi selbst. Dennoch liebte ich meinen Vater, denn ich vertröstete mich mit dem Gedanken, dass auch er es schwer hatte, und über den Verlust nicht leicht hinwegkam.

"Was hast du mit Corinne angestellt?", wollte er von mir wissen und schubste mich aus der Umarmung. 

"Papa?" Was sollte ich denn angestellt haben? Ich wusste nicht, auf was er hinauswollte.

"Du Ausgeburt des Teufels!" Mein Vater schubste mich abermals, nur dieses Mal gegen den Küchentisch.

"Au!", schrie ich auf, als ich die Kante des Tisches in meinem Rücken spürte. Angst machte sich in mir breit.

"Papa, was machst du da?", wollte ich verzweifelt wissen. Doch er schien mich nicht wiederzuerkennen.

Mein Vater schlug mir ins Gesicht, sodass ich anfing zu heulen. Ich konnte nicht glauben, was er mit mir tat. Dann packte er mich grob am Arm und schubste mich in den Flur. Hastig stand ich auf, als ich merkte, dass er vom Alkohol ins Wanken kam.

"Papa, bitte hör auf damit.", schluchzte ich, doch er kam wieder auf mich zu. Mein Herz raste vor Angst und Verzweiflung, sodass ich ohne lange nachzudenken, die Treppen nach oben lief. Ich hörte, wie mein Vater versuchte, die Treppen nach oben zu kommen, doch er war bei Weitem nicht so schnell wie ich. Hastig und mit zittrigen Fingern schloss ich die Zimmertür und lief zu meinem Schreibtisch hin. Dort musste ich irgendwo den Schlüssel hingelegt haben. Doch wo? 

Ich hörte, wie sich die Schritte von meinem Vater, meinem Zimmer näherten und mir schossen erneut die Tränen in die Augen, sodass mein Blickfeld verschwamm. Ich öffnete die dritte Schreibtischlade und konnte den Schlüssel unscharf erkennen. Hastig ergriff ich ihn und stürmte zu meiner Tür. Den Schlüssel brachte ich nach dem dritten Anlauf endlich ins Schlüsselloch, genau in dem Moment, wo mein Vater die Türklinke drückte.

"Mach auf, du verdammtes Gör!", fauchte er. Doch die Tür blieb verschlossen. Angsterfüllt, stellte ich mich ans Fenster und schaute nach unten. Falls er tatsächlich reinkommen sollte, würde es dann sehr weh tun, aus dem Fenster zu springen?

Ich schrak von meinem Schlaf hoch und versuchte mich zu beruhigen. Ich versuchte meine Atmung wieder normal hinzubekommen und schaute auf die Uhr. Es war gerade einmal drei Uhr morgens. Mein Vater war bestimmt noch wach. Meistens ging er erst gegen vier Uhr ins Bett. Seine Freunde schmiss er meistens gegen zwei Uhr morgens raus, weswegen ich vermutete, dass er alleine vor dem Fernseher saß. 

Ich griff mir an die Stirn, die komplett verschwitzt war, und ich wusste ich brauchte eine Dusche. Wenn ich leise war, würde es mein Vater nicht mitbekommen. In sein Schlafzimmer ging er nur selten, denn meistens schlief er gleich unten auf dem Sofa.

Ich drehte den Schlüssel und lauschte. Der Fernseher war definitiv noch an. Draußen am Gang, schloss ich meine Zimmertür ab und umklammerte meinen Schlüssel fest. Als ich das Badezimmer erreichte, sperrte ich auch dieses ab und gönnte mir eine warme Dusche. Meistens duschte ich irgendwann mitten in der Nacht, oder am Vormittag, wenn mein Vater noch tief und fest schlief. 

Als ich fertig war, das Badezimmer wieder aufsperrte, lauschte ich abermals, ob etwas zu hören war. Doch alles was ich nun hörte, war, dass mein Vater laut weinte und den Namen von meiner Mutter immer wiederholte. 

"Corinne. Corinne. Corinne."

Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Ich hasste es, wenn andere Menschen weinten. Noch mehr hasste ich es, wenn Menschen weinten, die mir nahe standen. Ich konnte es nicht ertragen, ihn weinen zu hören, weswegen ich so schnell wie möglich wieder in meinem Zimmer verschwand.

Zum Glück musste ich morgen erst nachmittags arbeiten, denn ansonsten wäre ich bestimmt total übermüdet gewesen, vor allem, da ich nun nur noch schlecht einschlafen konnte. Ständig musste ich an meinen weinenden Vater im Wohnzimmer denken, aber auch an den Traum, wo er so furchtbar gemein zu mir war. Ich wusste nicht einmal mehr, ob ihm überhaupt klar war, dass ich seine Tochter war. Das Gefühl, seine Tochter zu sein, gab er mir schon lange nicht mehr.


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