-06- Oliver

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„Verdammte Scheiße!", ruft Oliver aufgebracht.

Wir machen uns auf den Weg zurück zur Bushaltestelle. Die ganze Zeit über stößt Oliver Flüche aus, zerrauft seine Haare und kickt mit seinem Fuß kleine Steine weg. Einmal schlägt er sogar mit seiner Faust in eine Hauswand und hinterlässt eine tiefe Kuhle.

Automatisch weiche ich ein wenig von ihm zurück. Solch ich einen Gefühlsausbruch habe ich nicht erwartet. Normalerweise ist Oliver ruhig und distanziert – aber jetzt scheinen ihn seine Emotionen zu überrollen.

„Oliver –", setze ich an, um ihn zu beruhigen.

Er wirbelt zu mir herum. Sein Blick ist rasend. Erschrocken bleibe ich stehen.

„Du hast keine Ahnung, was für eine Ironie das ist, dass ich endgültig sterben werde", zischt er und macht ein paar Schritte auf mich zu. „Vor zwei Jahren hätte ich mich über diese Offenbarung gefreut. Ich hätte es kaum abwarten können zu sterben. Aber jetzt, wo ich endlich verstanden habe, was es bedeutet zu leben, da kommt so ein blöder Hexenmeister und meint mir einen Strich durch die Rechnung zu machen."

„Vardis hat bald gesagt. Das kann alles bedeuten. Er ist über 100 Jahre alt, vielleicht bedeutet bald in seiner Zeitrechnung erst in zehn Jahren", versuche ich optimistisch zu klingen. Ich weiß keine tröstenden Worte und ich weiß erst recht nicht, wie ich einen aufgebrachten Vampir beruhigen kann.

„Oder bald heißt, in zehn Minuten, vielleicht auch morgen oder in einem Monat", hält Oliver dagegen und verengt seine Augen. „Das ist deine Schuld. Ich hätte nicht mit dir mitgehen sollen. Jetzt habe ich quasi schon das Ende meines eigenen Buches gelesen."

„Das ist nicht fair", gebe ich zurück. „Du hattest auch deine Absichten. Scheinbar wolltest du sowieso nach einer Hexe suchen, um ein Tageslichtschmuckstück zu bekommen. Da kam es dir doch glatt gelegen, dass ich einen Ort kannte, an dem sich viele Hexen und Hexer befinden."

„Macht doch eh keinen Unterschied mehr", murmelt Oliver. Für einen kurzen Moment schweigt er, ehe er fassungslos den Kopf schüttelt. „Du hast wirkliches Glück, Aria. Du machst solch eine Drama darum, dass du zum Wolf wirst. Immerhin hast du deinen Vater und ein ganzes Rudel hinter dir, die dich unterstützen werden. Ich hatte niemanden, als ich zum Vampir wurde. Ich wusste noch nicht einmal, dass ich einer war, bis mich die Sonne fast verbrannt hätte und ich diesen unglaublichen Blutdurst gespürt habe. Ich habe sogar einen Menschen getötet."

Mir ist noch nie in den Sinn gekommen, dass Oliver jemanden umgebracht haben könnte. Aber als Vampir hat man sich insbesondere am Anfang fast gar nicht unter Kontrolle und muss erst mühsam lernen, den Blutdurst zu beherrschen.

Auf einmal wird mir bewusst, wie wenig ich über den unscheinbaren Jungen vor mir weiß. Er hat eben beiläufig erwähnt, dass er sich vor zwei Jahren gewünscht hätte zu sterben. Solch ein Gedanke zeigt, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

Oliver fährt sich durch die Haare und versucht seine Atmung zu kontrollieren. Die Gefühle eines Schattenwesens sind intensiver, impulsiver und unkontrollierbarer. Alles drängt verstärkt zu dem Wesen durch. Oliver gibt sich wirklich Mühe, seine Rage zu unterdrücken.

„Was ist vor zwei Jahren passiert, Oliver?", frage ich ihn vorsichtig.

Er atmet gepresst durch seine Nase ein und aus. Seine Lippen bilden eine schmale Linie. Oliver schaut mich lange an, ehe sich in seinem starren Gesichtsausdruck Regung zeigt. Er senkt den Blick und ich kann einen Schatten von Trauer in seinem Gesicht erkennen.

„Du meinst wohl eher, was vor drei Jahren passiert ist", sagt er schließlich. Seine Stimme klingt matt und stumpf. Die unkontrollierte Wut ist verflogen, stattdessen lässt Oliver die Schultern hängen.

GejagtWhere stories live. Discover now