Kapitel 1.1

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Kapitel 1

Eine unkontrollierte Reise durch die Zeit kündigt sich in der Regel einige Minuten, Stunden oder manchmal auch Tage vorher durch Schwindelgefühle in Kopf, Magen oder Beinen an. Diese Worte, die mir über die Jahre hinweg immer wieder eingeschärft wurden, schossen mir durch den Kopf, als ich aus dem Schlaf hochfuhr. Geweckt hatte mich ein Gefühl wie in der Achterbahn, mein Magen zog sich unangenehm zusammen.

Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte ich das Essen gestern bei Burger King nicht vertragen, was gar nicht mal so unwahrscheinlich war, und würde gleich kotzen, oder mein erster Zeitsprung stand tatsächlich bevor.

Ich war die zehnte von zwölf Zeitreisenden, die über die Jahrhunderte verteilt lebten, und mit einer Zeitmaschine, die sich Chronograf nannte, in die Vergangenheit reisen konnten. Alle außer mir und der Nummer neun waren entweder tot oder noch gar nicht geboren, daher kannte ich sie nicht.

Vorsichtig setzte ich mich auf und überlegte, ob es sich lohnte, zum Klo zu rennen, aber sollte ich mich wirklich übergeben müssen, war der Weg ohnehin zu weit. Das war der Nachteil daran, wenn man in einem riesigen Haus wohnte.

Die Entscheidung wurde mir abgenommen, als Übelkeit und Schwindel ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren, und mich atemlos in meinem Zimmer zurückließen. Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich das ganze ignoriere und mich wieder schlafen legen sollte, ich war wirklich totmüde, aber ich rief mir in Erinnerung, wie gefährlich ein unkontrollierter Zeitsprung sein konnte, und hievte mich mühsam aus dem Bett.

Meine nackten Füße auf dem Steinboden waren das einzige Geräusch, das ich vernehmen konnte, als ich in Richtung des Schlafzimmers meiner Eltern schlich. Sie würden wissen, was ich zu tun hatte – das hoffte ich jedenfalls.

Ich fiel vor Schreck beinahe in Ohnmacht als wie aus dem nichts Mr. Bernhard, unser unheimlicher Butler, vor mir auftauchte. Wie schaffte er es nur, sich immer wieder unbemerkt anzuschleichen?

„Gibt es ein Problem, Miss Lucy?", fragte er und schaute mich dabei prüfend aus seinen Eulenaugen an. Wie immer, wenn er mit mir redete, lag aber auch noch etwas anderes, kaum merkliches, in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich es als Schmerz interpretiert. Schnell schob ich den Gedanken beiseite.

„Ähm, nein, es ist nur ... Ich muss mit meinen Eltern reden." Angestrengt schaute ich auf den Boden. In seiner Gegenwart fühlte ich mich stets etwas unwohl.

„Um diese Uhrzeit?"

Ich nickte. „Es ist wichtig." Er lebte zwar schon immer bei uns, aber ich war mir nicht sicher, ob er über die Eigenarten unserer Familie Bescheid wusste, also behielt ich mein „Problem", wie er es nannte, lieber für mich.

„Nun denn, ich schlage vor, Sie schleichen wie eine Katze, damit Sie niemand anderen aufwecken." Mr Bernhard nickte mir noch einmal zu und machte sich (hoffentlich) auf den Weg zurück ins Bett. Der Typ war einfach gruselig. Und, hallo?! Er tat ja gerade so, als wäre ich elefantenmäßig herumgetrampelt, dabei war ich so leise, wie ich konnte. Kopfschüttelnd klopfte ich an die Tür von Mums und Dads Schlafzimmer. Sie waren mit meinen älteren Geschwister Janet und David aus London fortgezogen, das Stadtleben hatte ihnen nie wirklich gefallen, doch dann war ich geboren und hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. 

Mein Geburtsdatum, den fünfzehnten April des Jahres 1976, hatte angeblich Newton höchstpersönlich ausgerechnet. Das wiederum belegte, dass ich eine sogenannte Genträgerin war, sprich, das Zeitreisegen, das sich seit Generationen durch meine Familie zog, geerbt hatte. Und da ich darauf vorbereitet werden musste, mich in der Vergangenheit zurechtzufinden, mussten sie zurück in die Hauptstadt ziehen. Hier war das Hauptquartier der Wächterloge, einem uralten Geheimbund, der sich mit Menschen wie mir beschäftigte, und den Chronografen besaß, mit dem ich unkontrollierte Zeitsprünge verhindern konnte. Außerdem wollten sie mithilfe des Blutes aller Zeitreisenden die Welt retten (das klingt mehr als abgedroschen, ich weiß). Mein Grandpa, Lord Lucas Montrose, nach dem ich übrigens benannt wurde, war seit nicht allzu langer Zeit Großmeister dieser Loge.

Als mir niemand antwortete platzte ich schulterzuckend in den Raum hinein, inständig hoffend, das meine Eltern nur schliefen und nicht mit anderen Dingen, die man in einem Schlafzimmer macht, beschäftigt waren.

„Dad!", rief ich, und rüttelte meinen Vater an der Schulter, doch der dachte gar nicht daran, aufzuwachen. Er drehte sich lediglich einmal um, und schnarchte dann munter weiter. Ich fragte mich immer wieder, wie Mum es fertigbrachte, neben diesem Mann zu schlafen, die Geräuschkulisse war enorm. „Dad!", rief ich jetzt etwas lauter, und endlich öffnete er die Augen.

Einen Moment schaute er mich nur verwirrt an, dann murmelte er schlaftrunken: „Luce, mein Schatz, was ist denn los?"

„Ich glaube, es ist bald soweit."

Auf einmal war er hellwach, setzte sich kerzengerade auf und fuhr sich durch die Haare. „Du meinst deinen Initiationssprung? Ist dir schwindelig geworden?"

Ich nickte, und erst jetzt drang wirklich zu mir durch, dass das Warten bald ein Ende hatte. Ich würde die aufregendsten Dinge erleben: Auf historische Bälle gehen, den Grafen von Saint Germain treffen, Ereignisse, über die andere nur in Geschichtsbüchern lesen konnten, mit eigenen Augen sehen. Aber trotz all der Vorbereitungen, den Fechtstunden, dem Tanz-, Geschichts- und Mysterienunterricht, machte sich plötzlich Angst in mir breit. Man hatte mir oft genug eingeschärft, welche Gefahren in der Vergangenheit lauerten.

„Okay. Geh ins Musikzimmer. Ich werde deinen Großvater wecken. Er weiß, was zu tun ist." Liebevoll nahm er meine Hand. „Keine Angst, mein Kind, dir wird nichts geschehen. Sobald du den Initiationssprung hinter dir hast, wirst du sicher mit dem Chronografen durch die Zeit reisen. Und du bist ja nicht allein."

Dankbar lächelte ich ihn an. Er hatte Recht. Und außerdem würden mich, wenn ich meinen ersten Zeitsprung überstanden hatte, Lady Arista und meine Eltern endlich nicht mehr im Zwei-Minuten-Takt fragen, ob mir schwindelig sei. Glaubt es, oder glaubt es nicht, auf die Dauer kann das echt nervig werden. 

Saphirmädchen - It's time.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt