Kapitel 2.2

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 Im Hauptquartier der Wächter nahm mich gefühlt der gesamte innere Kreis in Empfang – Mr George, ein netter, rundlicher Mann, Falk de Villiers, der sich erst frisch vom Novizen hochgearbeitet hatte, Dr. White, und unzählige weitere Männer mit ernsten Gesichtern. „Lucas, Lucy, da seid ihr ja!" Ich bekam eine leichte Gänsehaut, als ich sah, dass es Mr. Marley war, der gesprochen hatte: Vor ihm hatte ich schon immer einen gesunden Respekt – alles an ihm schien einschüchternd, die dunkle Haarmähne, der lauernde Blick, die katzenhafte Art, wie er sich bewegte.

Die Familie Marley war, wie die der de Villiers, schon immer in der Loge vertreten, sie stammte direkt von dem Seelenbruder des Grafen von Saint Germain, dem Zeitreisenden, der den Geheimbund gegründet hatte, ab. Die de Villiers waren Nachkommen des Grafen selbst. Fragt sich nur, wie wir Montroses mit der Loge in Kontakt gekommen waren. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Das Zeitreisegen kam erst durch Lady Arista in die Familie. Aber wahrscheinlich waren wir vor langer Zeit mal echt wichtig, immerhin hatte mein Großvater einen Sitz im Oberhaus.

„Was hat so lange gedauert?", fragte Mr George.

„Stau, wie immer." Grandpa verzog das Gesicht. „Ganz London ist auf dem Weg zur Arbeit. Wir dürfen keine Zeit verlieren, es ist jetzt schon über eine Stunde her, dass sie wieder hier ist. Jake, du weißt, was zu tun ist."

Dr White nickte ihm zu, und lächelte mich dann an. Sein Lächeln war herzerwärmend. „Komm mit Lucy, wir brauchen dein Blut."

Natürlich, das hatte ich komplett vergessen. Um den Chronografen benutzen zu können, musste erst mein Blut eingelesen werden. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, ich hasste Nadeln über alles, doch ich verzog keine Miene.

„Wie geht es dir?", fragte Dr. White, während wir uns unseren Weg durch die unzähligen unterirdischen Gänge, die es so schwer machten, sich im Hauptquartier zurechtzufinden, bahnten. Er war ein freundlicher Mann, immer zu Scherzen aufgelegt, und hatte einen kleinen Sohn, der einfach nur goldig war. Ich meinte mich zu erinnern, dass er Robert hieß. Einmal war er da gewesen, als ich geimpft wurde, und ich hatte mich praktisch direkt in ihn verliebt.

„Großartig!", rief ich aus, und zu meiner eigenen Überraschung war es nicht einmal gelogen. Mal von den Nadeln abgesehen. „Ich bin furchtbar aufgeregt! Gleich geht das Abenteuer los, oh mein Gott, ich kann es kaum erwarten! Und ich sehe den Chronografen! Wie groß ist der eigentlich? Und wie viel von meinem Blut wird da reingepumpt? Und wie groß sind die Edelsteine von denen ihr mir erzählt habt? Groß genug, dass es einen Reiz hätte, ihn zu stehlen? Ich meine, ich würde das nie machen, aber rein hypothetisch, ich meine es gibt ja unendlich viele Bankräuber und sowas, man weiß ja nie. Ist er gut beschützt? Warum haben Sie ihn mich eigentlich nicht schon früher sehen lassen? Und sollte ich nicht lernen, selber damit umzugehen? Das würde doch alles viel unkomplizierter machen, dann müsste nicht immer jemand die Zeitreisen überwachen und so. Ich mein ja nur – sowas hätte ich echt im Mysterienunterricht lernen können, oder?"

Erst als mir die Luft wegblieb, bemerkte ich, dass ich mal wieder in einer Tour quasselte, wie immer, wenn ich aufgeregt war. Ein wenig beschämt senkte ich den Blick, ich hörte mich an wie ein nerviges Kleinkind.

Dr White jedoch warf mir nur einen amüsierten Blick zu. „Das sind aber ziemlich viele Fragen auf einmal, junge Dame. Du kannst es wohl kaum erwarten, was?"

Ich lachte. Wir waren in der Zwischenzeit in seinem Arbeitszimmer angekommen, einem sterilen Raum mit weißen Wänden, der stark nach Desinfektionsmittel roch. In der Mitte des Zimmers stand die vertraute harte Liege, auf der ich schon unzählige Impfungen verpasst bekommen hatte. Die negativen Erinnerungen, die ich mit diesem Ort verband (Nadeln und wieder Nadeln), konnten meine aufgekratzte Stimmung nicht trüben. „Ich bin einfach so aufgeregt. Ich kann einfach nicht aufhören daran zu denken, was jetzt kommt, die Abenteuer und alles! Überlegen Sie doch mal, was ich jetzt alles erleben werde!"

„Vor allem wirst du täglich mehrere Stunden in einem langweiligen Raum sitzen und Hausaufgaben machen", informierte er mich trocken.

„Hey, lassen Sie das, Sie verderben mir die ganze Stimmung!", rief ich und schüttelte gespielt ungläubig den Kopf. Natürlich wusste ich, dass nicht jeder Tag besonders spannend werden würde.

Dr. White schmunzelte und rammte mir unbarmherzig eine Nadel in den Arm. „Aua!", rief ich empört. Er hatte nichtmal Zeit damit verschwendet, mir zu sagen, meinen Ärmel hochzukrempeln. Allerdings wäre das bei meinem T-Shirt auch irgendwie sinnlos gewesen. „Hätten Sie mich nicht vorwarnen können?"

„Dann wärst du nur in Panik geraten, ich kenne dich." Ich ignorierte ihn und kniff die Augen zusammen, während ich krampfhaft versuchte, an etwas anderes zu denken, als das kühle Metall, dass in meiner Vene steckte. „So, schon vorbei." Er tupfte die winzige Stichwunde ab und klebte ein Pflaster darüber. „So schlimm war es doch gar nicht, oder?"

Finster funkelte ich ihn an, doch bevor ich etwas erwidern konnte, schwang die Tür auf, und Paul de Villiers trat in den Raum. Und damit war meine gute Laune endgültig dahin. 

Paul war, wie die meisten männlichen Wesen in seiner Familie, ein arroganter Mistkerl, der sich selbst für etwas Besseres hielt. Leider war er auch der einzige andere Zeitreisende, der im Moment am Leben war, was bedeutete, dass ich gezwungen war, mich mit ihm abzugeben.

Früher, als wir noch Kinder waren, waren wir eigentlich ziemlich gut befreundet. Wie hätten wir uns auch nicht anfreunden können, schließlich bekamen wir gemeinsam täglich stundenlangen Fecht-, Mysterien-, Tanz- oder Geschichtsunterricht. Außerdem teilten wir dasselbe Schicksal, ein Schicksal, von dem wir niemandem außerhalb der Familie erzählen durften. Wir hatten niemand anderen in unserem Alter, mit dem wir reden konnten. Hätte ich Paul damals nicht gehabt, wäre ich furchtbar einsam gewesen.

Aber dann kam er in die Pubertät und fand es anscheinend alles andere als cool, mit mir rumzuhängen, immerhin war ich über zwei Jahre jünger als er. Er wurde abweisend und manchmal sogar richtig gemein, und ich, die sich so ein Verhalten von niemandem gefallen ließ, passte mich ihm an. So stritten wir uns immer häufiger und redeten schließlich kaum noch miteinander. Seit seinem Initiationssprung hatte er kaum noch Zeit für den gemeinsamen Unterricht, im letzten Jahr waren wir uns bestimmt nur ein, zwei Mal über den Weg gelaufen.

„Hi, Lucy." Lässig kam er auf mich zu und betrachtete mich einem Moment lang aus seinen Bernsteinaugen. Ich tat es ihm nach. Er hatte sich verändert, seit ich ihn das letzte Mal wirklich gesehen hatte, seine Schultern waren breiter, die Gesichtszüge weniger weich, was ihm ein erwachseneres Aussehen verlieh, und er war um einige Zentimeter gewachsen. Die schwarzen Haare trug er jetzt nicht mehr ganz so kurz wie früher, was ihnen einen leicht strubbeligen Eindruck verlieh, aber auf eine positive Weise. Auch wenn ich es ungern zugab, der Junge sah verboten gut aus.

„Hi", murmelte ich, und meine Stimme klang brüchiger, als mir lieb gewesen wäre. Er nickte mir noch einmal zu, schien dann aber auch schon das Interesse zu verlieren.

„Sind Sie fertig mit ihr?", fragte er an Dr. White gewandt.

Er nickte. „Es ist alles erledigt. Es muss nur noch das Blut eingelesen werden, und dann ist sie bereit für ihre erste kontrollierte Zeitreise."

Oh, ich wie ich es liebte, wenn Leute über mich redeten, als wäre ich gar nicht da.  


Saphirmädchen - It's time.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt