Kapitel 3.1

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Kapitel 3

Schwer atmend fuhr ich mir durch die Haare. Das Schwindelgefühl war verflogen, und um mich herum sah fast alles aus, wie noch vor ein paar Sekunden (oder sollte ich lieber sagen in einigen Jahren?), und im ersten Augenblick hoffte ich, nicht gesprungen zu sein. Doch die Tür hinter mir war nun verschlossen, das Licht, das durch die Fenster fiel heller, sonniger, und ich war allein. Beinahe zumindest. Von der anderen Seite des Raumes her betrachteten mich zwei Jungen, kaum älter als ich selbst, mit großen Augen.

„Wo kommst du denn so plötzlich her?", fragte der linke, er schien sich Mühe zu geben, höflich zu klingen. Ich betrachtete ihre Gesichter etwas genauer und stellte fest, dass sie identisch waren, beim besten Willen konnte ich die beiden nicht auseinanderhalten. Als ich auch noch die typischen De Villiers Merkmale erkannte – bernsteinfarbene Augen, schwarze Haare – wusste ich mit ziemlicher Sicherheit, wen ich hier vor mir hatte: Jonathan und Timothy de Villiers, die Zwillings-Karneole.

Jedem Zeitreisenden war ein Edelstein zugeordnet, so war ich zum Beispiel der Saphir. Eigentlich hatte jeder einen eigenen Stein, einen eigenen Baum, ein eigenes Tier und eine eigene alchemistische Zutat, die in den Prophezeiungen, die es über uns gab, als Symbol für die jeweilige Person verwendet wurden. Aber die de Villiers Zwillinge waren eine Ausnahme. Ihnen waren beiden dieselben Dinge zugeordnet, wahrscheinlich, weil sie eineiig waren und dieselbe DNA teilten. Somit war der Chronograf mit 12 Edelsteinen bestückt, und alle sprachen immer von „den 12 Zeitreisenden", obwohl es in Wirklichkeit 13 gab.

„Sie sind Jonathan und Timothy, habe ich Recht?", fragte ich leicht außer Atem. Ich hatte schon einiges über sie gelesen, unter anderem über die Studien, die sie zum Thema Zeitreisenden betrieben hatten, was für ein Zufall, dass ich ihnen auf einem unkontrollierten Zeitsprung begegnete. Sie waren 1875 geboren, und angesichts ihr junges Alters kam ich zu dem Schluss, dass ich mich noch vor der Jahrhundertwende befand.

Die beiden nickten, sie wirkten eindeutig überrascht. „Woher weißt du das? Und wer bist du überhaupt?"

„Lucy. Lucy Montrose, Sir. Ich habe viel über Sie gelesen. Könne sie mir sagen, welches Jahr im Moment ist?"

Die Beiden tauschten einen merkwürdigen Blick, und der Linke fing tatsächlich an zu lachen. So komisch war die Frage nun auch wieder nicht, gerade für jemanden wie sie, dachte ich verärgert. „Natürlich, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Rote Haare, unangemessene Kleidung ... Wir haben heute den 14. August des Jahres 1667."

„Oh. Verstehe. Sie sind auch auf einer Zeitreise."

Der Rechte, ich beschloss einfach, dass er Timothy war, nickte. „Hat man dir gar nicht gesagt, wo du hingeschickt wirst? Und müsste in den Annalen nicht stehen, dass wir heute auch hier sind?"

„Ich wurde nicht geschickt. Das ist mein zweiter unkontrollierter Zeitsprung, wir waren nach meinem Initiationssprung nicht schnell genug mit dem Einlesen in den Chronografen. Meine Güte, das ist gerade Mal 3 Stunden her, und da war ich schon 2 Stunden weg, bin ich etwa irgendsoeine Super-Zeitreisende, ich meine, das ist doch nicht normal, ist Elaine Burghley nicht nur irgendwie 2 Mal in ihrem ganzen Leben gesprungen? Vielleicht muss ich am Ende noch mehr elapsieren als normale Zeitreisende! Wann soll ich dann bitte noch zur Schule gehen? Und überhaupt ..." Als ich die belustigten Blicke auf meinem Gesicht spürte und merkte, dass ich mal wieder wie ein Wasserfall quasselte, wurde ich rot und starrte auf meine Füße. „Naja, ist ja auch egal."

„Mach dir keine Sorgen, Lucy. Jeder Zeitreisende ist ein bisschen anders, aber wenn du jeden Tag dreieinhalb Stunden elapsierst, solltest du auf der sicheren Seite sein." Elapsieren, so nannten wir kontrolliertes Zeitreisen mit dem Chronografen. Ich hatte keine Ahnung, wer sich diesen Begriff ausgedacht hatte, es war nur ein weiteres unsinniges Fremdwort, das sich kein Mensch merken konnte. Wenn ich so darüber nachdachte, passte es perfekt zu der Loge.

Dankbar lächelte ich ihn an. „Sag, hat die Loge in deiner Zeit finanzielle Probleme?" Einen Moment sah ich Timothy stirnrunzelnd an, was sollte die Frage denn bitte? Dann spürte ich seinen Blick auf meiner zerfetzten Jeans. „Oh. Nein, das trägt man heutzutage so, ist total trendy, ehrlich."

Irritiert zog er eine Augenbraue hoch. Ich sollte wirklich auf meine Ausdrucksweise achten, Wörter wie trendy existierten schließlich noch nicht. Wie hatte ich das nur vergessen können, es war mir immerhin mein halbes Leben lang eingetrichtert worden. „Das muss ja eine ... ähm ... verrückte Zeit sein, in der du da lebst. Sag, aus welchem Jahr kommst du?"

„Oh ja, nach Ihren Standards schon, die heutige Gesellschaft ist viel freizügiger und weniger steif als die zu Ihrer Zeit. Es ist Sommer 1992."

„1992...", murmelte Jonathan leise. „Ist das nicht das Jahr, in dem der Diamant geboren wird?"

Ich nickte. „Ja, seine Mutter ist gerade im siebten Monat schwanger, ich habe sie erst letzte Woche getroffen, sie kann es kaum noch erwarten, er ist ihr erstes Kind. Sein Vater heißt übrigens auch Jonathan, benannt nach seinem Ur-Urgroßvater. Wer hätte gedacht, dass ich besagten Ur-Urgroßvater einmal persönlich kennenlernen würde?"

„Dann stammt der letzte männliche Zeitreisende also von mir ab?", fragte der Bruder, den ich bisher für Timothy gehalten hatte, erfreut. Verdammt. „Es ist schon erstaunlich. Im Moment kann ich mir noch nicht einmal vorstellen, zu heiraten, geschweige denn Kinder zu bekommen, und da kommst du und erzählst mir von meinem Ur-Urenkel und der anstehenden Geburt meines Ur-Ur-Urenkels. Einfach verrückt."

Der echte Timothy lachte. „Tja, mit so etwas muss man wohl rechnen, wenn man wild in der Zeit herumspringt und Besuch aus der Zukunft bekommt."

Ich grinste. „Das ist der Vorteil, wenn man zu den letzten Zeitreisenden gehört. Keine Überraschungsbesuche aus anderen Jahrhunderten."

Auf einmal wurden die Blicke der Zwillinge Ernst. Es war wirklich erstaunlich, sie zu beobachten. Sie funktionierten wie zwei perfekt aufeinander abgestimmte Maschinen, schienen immer dasselbe zu denken, nahmen die selbe Körperhaltung an, sprachen mit dem selben Ton. Auf einmal schien es mir gar nicht mehr so absurd, dass sie häufig als eine Person bezeichnet wurden, denn genau so war es. Mir kam es fast so vor, als hätte jemand eine Seele genommen und sie in zwei Körper auf einmal gesteckt. Offenbar gab es wirklich diese spezielle Verbindung zwischen Zwillingen. „Es ist einfach unglaublich, wenn ich mir vorstelle, dass es von dir aus gesehen nur noch 2 Jahre sind, bis der Rubin geboren wird. Einfach unvorstellbar. Du bist so nah dran, das Geheimnis hinter dem Geheimnis zu lüften."

„Es ist mir eine Ehre, in dieser Zeit leben zu dürfen", lächelte ich. Wer wohl den Rubin, den letzten Zeitreisenden im Kreis der 12 zur Welt bringen würde? Auf jeden Fall jemand aus meiner Familie, denn die Prophezeiung besagten, es würde ein Mädchen sein, ein ganz besonderes Mädchen. Ich meine, noch besonderer, als wir alle ohnehin schon waren. Angeblich sollte sie über die „Magie des Raben" verfügen. Sobald ihr Blut in den Chronografen eingelesen und sich der „Blutkreis schließen" würde, sprich, das Blut aller 12 Zeitreisenden im Chronografen war, sollte sich das Geheimnis hinter dem Geheimnis lüften und die Welt von allen Krankheiten retten oder so. Dieses Ereignis, etwas, auf das die Loge seit Jahrhunderten hinarbeitete, lag nur nur noch 18 Jahre in der Zukunft. „Wie ist es eigentlich so in der Vergangenheit? Also auf Dauer? Ist es nicht furchtbar? Ich könnte mir nicht vorstellen ohne meine Dusche zu leben, oder jeden Tag lange Röcke tragen zu müssen..." Allein der Gedanke schüttelte mich.

Die beiden lachten. „Für uns ist es die Gegenwart, also normal, so wie deine verrückte Zeit dir normal erscheint. Außerdem tragen wir keine Röcke. Ich könnte dich genauso gut fragen – ist alles in Ordnung?"

Angestrengt schüttelte ich den Kopf, das Schwindelgefühl meldete sich wieder. „Es geht los. Hat mich sehr gefreut, euch kennenzulernen!"

„Leb wohl, Lucy Montrose!"

„Viel Glück auf deinem weiteren Weg!"

Ihre Rufe waren das Letzte, was ich hörte, bevor sich meine Gedärme zusammenzuziehen schienen und mich fortrissen, fort aus dem 17. Jahrhundert, zurück dahin, wo ich hergekommen war.

Als ich wieder klar sehen konnte, verspürte ich den starken Impuls, in den nächsten Papierkorb zu kotzen. Wenn ihr mich fragt, gehen Zeitreisen ziemlich auf den Magen.  

Saphirmädchen - It's time.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt