Kapitel 2
Innerlich jubelte ich, weil ich dieses Mal nicht hingefallen war, was jedoch weniger spektakulär war, wenn man bedachte, dass ich im Sitzen gesprungen war. Unter meinem Hintern befand sich jetzt ein gleichmäßigeres, moderneres Pflaster, und nach der Dunkelheit, in der ich mich bis vor wenigen Momenten befunden hatte, blendete mich die aufgehende Sonne.
Verärgert kniff ich die Augen zusammen, und nachdem ich mich an das Licht gewöhnt hatte, erkannte ich die Gegend tatsächlich wieder, von hier aus waren es ein paar Stationen mit der U-Bahn nach Hause. Stirnrunzelnd fragte ich mich, wie ich es geschafft hatte, so weit zu rennen, ohne Schuhe und Licht. Anscheinend war ich zu erstaunlichen Dingen fähig, wenn es drauf ankam.
Als ich den nächsten U-Bahnhof erreichte, bereute ich es wirklich, mich nicht umgezogen zu haben. In einer Fensterscheibe erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild, und wie erwartet, sah ich unerhört aus, meine Haare standen in alle Richtungen ab, ich war immer noch barfuß, und über meinen grässlichen Schlafanzug wollte ich gar nicht erst nachdenken. Okay, keiner starrt dich an, redete ich mir selbst stumm zu, doch es half nicht. Es war inzwischen nach sieben, und unendlich viele Pendler, die mich durchaus anstarrten, warteten auf den Zug. Ich konnte es ihnen nicht verübeln.
Mr Bernhard wirkte nicht im Geringsten überrascht, als er mir die Tür öffnete. „Da sind sie ja endlich, Miss Lucy, das wurde aber auch Zeit. Die ganze Familie ist in heller Aufregung." Natürlich war mein Zeitsprung nicht unbemerkt geblieben, was hatte ich erwartet?
„Lucy! Geht es dir gut?", ertönte die schrille Stimme meiner Mutter, die die Treppe herunter gestürmt kam. Sie schien auch nicht besonders viel Zeit gehabt haben, um sich die Haare zu kämmen, ihre dunklen Locken waren ein einziges Durcheinander, aber immerhin war sie vollständig angezogen. Noch bevor ich antworten konnte, stieß sie einen weiteren hysterischen Schrei aus. „Guter Gott, was ist denn mit deinem Knie passiert?"
In der Hektik der Ereignisse war ich noch gar nicht dazu gekommen, meine Verletzung zu begutachten, und als ich jetzt an mir herunterschaute, war es zerkratzt und geschwollen. Hätte ich es direkt nach dem Sturz gekühlt, hätte man es wahrscheinlich kaum gesehen, doch den Luxus gab es in der Vergangenheit leider nicht.
„Dr. White wird sich sicher darum kümmern", meinte Lady Arista, die gemeinsam mit meinem Vater und Lucas auf uns zu kam. „Was ist passiert?"
Ich erzählte ihnen, was geschehen war, wahrscheinlich hätte ich besser gewartet, bis meine Mum außer Hörweite war, denn sie stand kurz vor einem hysterischen Anfall, als ich zu der Stelle kam, wo mich Alice und Timothy durchs Haus verfolgten. Grandpa hingegen sah mich ernst und aufmerksam an und hörte zu, ohne mit der Wimper zu zucken, während Dad aufgeregt auf und ab lief. Wäre ich nicht so durch den Wind gewesen, hätte ich die Situation wahrscheinlich lustig gefunden.
„Nun", sagte Lady Arista. „Dann ist es also soweit. Unser Saphir hat den Initiationssprung hinter sich." Und wenn mich nicht alles täuschte schwang beinahe so etwas wie Stolz in ihrer Stimme mit.
Als ich, endlich vollständig angezogen und mit gekämmten Haaren, in der Limousine auf dem Weg nach Temple saß, fiel ein wenig Anspannung von mir ab. Meine Großmutter hatte Recht – ich hatte es hinter mir. Und von nun an würden meine Zeitreisen sicher, reguliert und ohne unangenehme Überraschungen verlaufen. Eine ganz andere Art der Aufregung, begann in meinem inneren zu prickeln, es war die Vorfreude auf all die Abenteuer, die ich nun erleben konnte. Als erstes wollte ich einen historischen Ball besuchen, so viel war sicher.
Neidisch betrachtete ich Grandpa, der mit einem dieser super coolen Mobiltelefone telefonierte, die Autotelefone komplett überflüssig machen. Für sein Alter war er ja mal sowasvon High Tech. Was hätte ich nur für so ein Telefon gegeben? Ich könnte meine Freunde anrufen wann und wo immer ich wollte. Gerade vor ein paar Wochen war dieses coole Netz erfunden worden, mit dem der Akku teilweise mehrere Stunden lang hielt. Aber leider waren die Dinger super teuer und die Rechnungen für normale Menschen unbezahlbar. Ich war zwar relativ sicher, dass wir genug hatten, aber mein Vater war der Meinung, ich sei ohnehin viel zu verwöhnt und weigerte sich, mir ein Mobiltelefon zu kaufen. Alter Knauserich.
Offenbar redete Lucas mit den Wächtern, denn obwohl ich nicht wirklich zuhörte, schnappte ich mehrmals die Worte „Chronograf" und „Zeitsprung" auf. Meine Eltern waren zuhause geblieben, Lucas hatte sie überredet, mir etwas Raum zu geben, da sie mir ohnehin nicht helfen konnte.
„Was passiert jetzt?", fragte ich, als er endlich auflegte, obwohl wir es in den letzten Jahren gefühlte zehntausendmal durchgekaut hatten. Man konnte ja nie sicher genug sein.
Er schenkte mir ein wissendes Lächeln. „Das weißt du doch, Lucy."
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Saphirmädchen - It's time.
FantasiLondon, 1992. Es ist so eine Sache mit der Zeit. Für normale Menschen verläuft sie in einem gleichmäßigen Rhythmus, in geraden Linien, zieht an ihnen vorbei, unaufhaltsam, während die Sekunden verstreichen. Versucht man sie festzuhalten, rinnt sie...