Die Schlucht

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Eine Woche später bekam Luisa eine Einladung von ihrer ehemaligen Schulfreundin Mary Darlington zu deren Gartenfest. Katie erklärte sich dazu bereit Luisa zu der Party hin zu begleiten und Ben wollte sie nach dem Fest wieder abholen. 

,,Auf keinen Fall reitest du alleine nach Hause! In der Schlucht treibt er wieder sein Unwesen!" schärfte Kapitän Rowling seiner Tochter ein.

,,Wer treibt dort sein Unwesen?" wollte Luisa wissen.

,,Ein ganz gefährlicher Bär! Er ist sehr aggressiv! Letzten Winter hätte er um ein Haar die Frau von Mr. Shelby getötet. Und nur weil sie auch alleine unterwegs war!"

Luisa lief es bei diesen Worten kalt über den Rücken und sie versprach nach dem Fest auf Ben zu warten.

Mary hatte viele Gäste eingeladen. Es war noch ein recht kühler Frühlingstag des Jahres 1861. In den Zweigen der Bäumen schaukelten wie immer bunte Lampions und es wurden erlesene Speisen und Getränke gereicht. An diesem Abend lernte Luisa viele interessante junge Leute kennen, die alle über einen bevorstehenden Konflikt mit den Nordstaaten und dessen Union diskutierten. Besonders die jungen Männer ereiferten sich als die Sprache auf den Angriff auf Fort Sumpter fiel. Sie hatten sich bereits alle in die Konföderierten - Armee eingeschrieben und brannten darauf endlich dem Feind auf dem Schlachtfeld gegenüber zu stehen. Dabei verhielten sie sich eher, als ob dies ein spaßiger Ausflug an einem schönen Sonntagnachmittag werden sollte, als eine ernste kriegerische Auseinandersetzung. Luisa fühlte die Euphorie, aber auch die Angst, die in der Luft lag.  

Mary stellte ihr einen jungen Medizinstudenten namens Lear Grand vor. Diesen fragte Luisa, warum alle jungen Männer hier so aufgeregt waren?

,,Vielleicht gibt es Krieg, Miss Rowling!"

,,Aber weshalb?"

,,Das hat viele Gründe. Wir möchten unsere farbigen Sklaven behalten und mit ihnen weiter Profite machen. Außerdem wollen wir unsere Agrarprodukte weiter ungehindert und unbegrenzt in Großbritannien und anderswo verkaufen, während der Norden für freie Arbeiter und Schutzzölle für seine noch junge Industrie plädiert. Sie können sich halt im Kongress nicht einigen!"

,,Aber diese Probleme kann man doch auch friedlich lösen!" gab Luisa zu bedenken.

,,Glauben Sie mir, dass mir nichts lieber wäre, als der Frieden. Schon bei dem Gedanken, dass ich als Arzt diese ganzen Menschen, die sich für nichtige Gründe den Schädel eingeschlagen haben, auf dem Schlachtfeld mühsam wieder zusammenflicken muss!" versuchte Mr. Carter einen Scherz zu machen. ,,Aber leider denkt nicht jeder hier so. Es geht um unsere Unabhängigkeit. Der Norden möchte eine Union aller Staaten mit einer Zentralregierung in Washington erreichen. Dann haben die Südstaaten bald gar nichts mehr zu melden. Zumal ja jetzt auch noch dieser Abraham Lincoln Präsident geworden ist."

,,Wer ist Abraham Lincoln?" wollte Luisa wissen.

,,Dieser Anwalt aus Illinois unterstützt nur die Interessen des Nordens und er will die Sklaverei abschaffen. Schon jetzt ist er mit der Mehrheit der Stimmen aus dem Norden gewählt worden. Früher hat stets der Süden die Präsidenten gestellt. Damals gab es noch nicht so viele Menschen im Norden und jeder Großgrundbesitzer im Süden besaß so viele Stimmen für den Wahlvorgang, wie Sklaven für ihn arbeiteten. Er stimmte für seine Arbeiter ab, obwohl diese keine eigenen Wahlstimmen besaßen. Aber nun ist die Bevölkerung im Norden durch die besseren Verdienstmöglichkeiten in der Industrie explodiert und droht uns natürlich im Kongress und Repräsentantenhaus zu überstimmen. Viele Südstaaten fürchten nun ihre bisherigen Privilegien an den Norden zu verlieren und sind schon teilweise aus der Union ausgetreten." 

,,Das ist ja schrecklich!" meinte Luisa betroffen. Bisher hatte sie sich nicht so sehr für die Politik interessiert und nun fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine unerklärliche Gefahr auf sich und ihre Freunde zukommen...

Als das Gartenfest zu Ende war, wartete Luisa auf Ben, der sie abholen sollte. Doch er kam nicht! Also entschied sie sich, trotz der Warnung ihres Vaters sich alleine auf den Heimweg zu machen. Der Weg von der Nachbargemeinde zu ihrem Heimatort war zwar nicht lang, aber dafür gefährlich, weil er durch einen Wald führte, in dem sich die Schlucht befand, wo sich der Bär aufhalten sollte.

,,Aber warum sollte ich diesem Tier ausgerechnet heute Abend begegnen?" dachte Luisa und ritt los. Als sie in den Wald kam, stiegen die Nebel wie Geister langsam hinter den Bäumen und auf den Wegen empor und das junge Mädchen begann allmählich an ihrem Vorhaben zu zweifeln.

,,Hätte ich Marys freundliches Angebot, bei ihr zu übernachten, nicht doch annehmen sollen?" schoss ihr der Gedanke durch den Kopf. ,,Aber nein, was soll schon passieren...!" versuchte sie sich im nächsten Augenblick wieder zu beruhigen. Langsam tastete sich ihr Pferd vorwärts und Luisa wurde es mit der Zeit immer unheimlicher. Den ganzen Mut, den sie eben noch besessen hatte, schwand, je länger sie in dieser gespenstischen Gegend unterwegs war. Was Luisa durch den dichten Nebel nicht bemerken konnte, war, dass sie nun ganz in die Nähe der Schlucht geraten war.

Plötzlich raschelte und knurrte es hinter ihr. Sie war wie erstarrt. Für einen Moment wagte sie sich nicht zu bewegen und saß regungslos im Sattel.  Endlich überwand Luisa die Angst und schaute sich um. Aber die Sicht war so schlecht, dass das junge Mädchen nichts erkennen konnte. Also gab Luisa ihrem Pferd die Sporen und ritt mit ihm behände über Stock und Stein, bis sie plötzlich auf einer großen Lichtung zum Stehen kam. Dort atmete Luisa durch. Anscheinend war sie diesem Etwas, was so geknurrt hatte, nun entkommen. Gerade wollte sie ihr Pferd zum Weiterreiten antreiben, als es erneut aus dem Busch, der ihr am nächsten stand, fauchte. Dann sprang etwas Großes direkt vor ihr Pferd, das sich erschrocken aufbäumte, Luisa abwarf und davon galoppierte. Luisa war auf den harten Waldboden gefallen und hörte jetzt, wie das große Tier, was vor ihr stand anfing zu brüllen und dann langsam auf sie zu schritt. In diesem Moment vernahm das junge Mädchen einen Gewehrschuss und wurde ohnmächtig...

Miss Luisa - Irrwege einer großen LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt