Kapitel 1 - Begegnung des Schicksals

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7. November 1938

Ungeduldig rutsche ich auf der Bank vor dem kunstvollen Anwesen des Palais Beauharnais hin und her. Schon seit einer viertel Stunde warte ich vergeblich, dass sich die Pforten der Deutschen Botschaft öffnen.

Es mag merkwürdig erscheinen, dass ich, die kleine fünfzehnjährige Jüdin mit den blonden Haaren und den hellblauen Augen, aus Deutschland nach Paris gereist bin, nur um hier eine Lappalie zu erledigen, für die man auch einen Boten hätte arrangieren können.

Doch für mich bedeutet es mehr, denn dieser Auftrag scheint mir ein sicheres Leben sichern zu können. Mein Vater, der in Berlin als Arzt tätig ist, hat hier einen hohen Kunden, dem einige Packungen wertvoller Medizin gebracht werden sollten. Ein passender und vor allem legaler Grund, mir eine Ausreise aus Deutschland zu genehmigen, ohne dass jemand Verdacht schöpft.

Es ging alles ganz schnell. Vorgestern kam mein Vater mit den rettenden Neuigkeiten von der Arbeit nach Hause geeilt. Er verschwand mit meiner Mutter im Arbeitszimmer, wo sie lautstark über etwas diskutierten, von dem ich nur ein paar Sätze aufschnappen konnte. Eigentlich wollte ich ja gar nicht lauschen, wie meine kleinen Brüder es immer tun, doch bei der Lautstärke ihres Gespräches hatte ich keine Wahl.

"Du willst sie wegschicken?" und "Aber was ist mit Jakob und Jonathan?" waren die aufgebrachten Ausrufe meiner Mutter.

Meine Brüder, die sich ganz "zufällig" an die angrenzende Wand zum Arbeitszimmer gesetzt hatten, tauschten besorgte Blicke aus.

"Wir haben keine andere Wahl!", wurde Mama von Papa unterbrochen. "Sie muss in Sicherheit!"

Daraufhin wurde es still. Jakob und Jonathan huschten schnell in ihr Zimmer, ich blieb an meinem Platz stehen. Ein Blick auf die Gesichter meiner Eltern sagte mir, dass der Moment gekommen war. Der Moment, mich wahrscheinlich für immer von meiner Familie zu verabschieden, eine Tatsache, die ich immer versucht hatte zu verdrängen.

Doch mal wieder wurde ich von der Realität eingeholt. Hier in Berlin war es zu gefährlich für eine kleine, hübsche Jüdin wie mich. Mir kamen die Tränen. Was war bloß aus dem schönen, lebendigen Berlin geworden?

Früher konnte ich mit meinen Freundinnen draußen auf der Straße spielen, ohne beschimpft zu werden. Früher konnte ich über die Straßen laufen, ohne für meine Religion als Schwein abgestempelt zu werden. Früher konnte ich morgens zum Bäcker Stern laufen und Brötchen zum Frühstück holen, doch jetzt gab es keinen Bäcker Stern mehr.

Wie so viele andere Juden, Freunde, sogar Verwandte verschwand er aus unserer Umgebung. Ob verhaftet oder geflohen, das wusste keiner.

Und nun war ich an der Reihe. Zwar hatte ich nicht die "typischen" braunen Haare und Augen, aber das war nur ein kleiner Schutz, der nur bei Fremden, die nicht in unserem Viertel lebten, wirkte.

Unsere Eltern hatten beschlossen, uns Kinder nach und nach aus dem Reich zu schleusen, bevor es zu spät war. So kam es, dass ich am nächsten Morgen mit einer kleinen Tasche gefüllt mit ein paar Klamotten, Hygieneartikeln und ein paar Packungen Medizin für einen Kunden in Paris den nächsten Zug nach Frankreich nehmen musste. Dann noch einmal in einer kleinen Pension übernachten und am nächsten Tag die Ware überreichen. Zuletzt die Verwandten aufsuchen.

Der eisige Novemberwind weht durch die Straßen und ich blicke fröstelnd auf meine lederne Armbanduhr. 'So viel zur Pünktlichkeit der Deutschen', denke ich mir. Im selbem Moment werden die Türen aufgeschlossen und ich will gerade aufstehen, um das Gebäude zu betreten, da höre ich zwei Männerstimmen ebenfalls auf das Palais Beauharnais zueilen.

Ich drehe kurz den Kopf, da fällt mein Blick auf die kleinere Gestalt der beiden. Erschrocken halte ich die Luft an und gefriere in meiner Position.

Meine Augen weiten sich, allerdings nicht, weil ich den kleineren, jungen Mann als meinen alten Kindheitsfreund Herschel Grünspan identifizieren kann, der mich noch nicht entdeckt hat, sondern weil ich mitbekomme, wie er heimlich eine mittelgroße Pistole lädt und in die Tiefe seiner Manteltasche versinken lässt.

"Halte dir vor Augen: Warum tust du das?", fragt ihn der andere Mann.

"Aus Rache."

Kristalltod - Zersplitterte Seelen {Kurzgeschichte}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt