Kapitel 4 - Freunde des Zwielichts

13 2 0
                                    

9. November 1938

Mit einem Ruck hält der Zug an. Verschlafen öffne ich die Augen. Das Abteil ist leer, draußen ist es dunkel. Ein schwach beleuchtetes Schild mit der Aufschrift 'Berlin Hauptbahnhof' signalisiert mir, dass ich mein Ziel erreicht habe.

Ich steige aus und betrete den fast vollkommen verlassenen Bahnsteig. Als nächstes werde ich die Wohnung eines Bekannten aufsuchen und hoffen, dass ich dort aufgenommen werde. Nach Hause kann ich nicht, denn auch hier hängen Bilder von mir und ich würde dort sofort in die Falle laufen.

Zum Glück fahren auch nachts um drei Uhr noch Straßenbahnen, also begebe ich mich zur nächst gelegenen Haltestelle. Gerade will ich einsteigen, da sehe ich die beiden SS-Offiziere in der Bahn sitzen. Ich wende mein Gesicht ab und eile zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin, doch ich war nicht schnell genug.

Hinter mir höre ich die wütenden Rufe der Offiziere, auf die ein lauter Schuss folgt. Er verfehlt, was daran liegt, dass die beiden Männer angetrunken sind.

Ich beschleunige meine Schritte und fange an zu laufen. Wie konnte ich nur so dumm sein und vergessen, dass es in Berlin von lauter Nazis nur so wimmelt!

"Bleib stehen!", brüllt der eine. Ich renne immer schneller, vorbei an den schwarzen Umrissen von gewaltigen Gebäuden. Noch ein Schuss fällt und zischt bedrohlich nah an mir vorbei.

Blind vor Angst renne ich einfach weiter, erst über eine Brücke und dann in den Tierpark. Heftige Seitenstiche zwingen mich, langsamer zu werden. Außer Atem husche ich über die weite Grasfläche des Parks und springe in ein dichtes Gebüsch. Nicht das Beste, was ich hätte tun können, doch besser, als auf offener Fläche niedergeschossen zu werden.

Schwere Schritte laufen dumpf über das Gras. Die Männer bleiben stehen und leuchten mit grellen Taschenlampen die Gegend nach mir ab.

Mein Herz klopft viel zu schnell und ich fürchte, dass mein lauter Atem mich noch verraten wird. Einer der beiden kommt dem schützendem Gewächs bedrohlich nahe und leuchtet mit seiner Lampe jeden Winkel ab.

Wie durch ein Wunder wendet er sich jedoch ab, bevor er meine Schuhe beleuchtet hätte.

Kurz darauf verschwinden die Männer. Ich verharre noch einige Minuten im Gebüsch, bis ich aus meinem Versteck herauskrieche.

*******

Nach einer Stunde Laufen habe ich es bis zum Haus unserer Bekannten geschafft. Klaus und Brigitte Schneider sind zwar keine Juden, haben sich allerdings auf unsere Seite geschlagen und sowohl uns als auch anderen schon oft geholfen.

Ich klingle zweimal. Nach ein paar Minuten wird die Tür einen Spalt geöffnet.

"Wer..", brummt eine verschlafene Männerstimme. "Greta? Was machst du hier?"

Bevor ich etwas sagen kann, zieht er mich hinein und schließt die Tür.

"Ach, das kann ich mir schon denken..", murmelt er sich selbst eine Antwort zu.

Ich bin zu müde, um irgendetwas zu sagen und bekomme nur noch mit, wie ich in das Gästezimmer geschoben werde und mich auf das gemütliche Bett lege.

*******

Am nächsten Morgen wache ich erst spät auf, es ist schon halb elf. Ich höre die Stimmen von Klaus und Brigitte aus dem Esszimmer, entscheide mich aber, erst einmal ins Bad zu gehen.

Mir blickt ein grausiges Spiegelbild entgegen: Tiefe Augenringe, Kratzer auf dem Gesicht und Blätter im blonden Haar. Ich wasche mir das Gesicht und die Haare, da fälle ich einen Entschluss.

Überall sind Bilder von mir ausgehängt. Zwar treffen diese Phantombilder nicht ganz den Ausdrucks meines Gesichts, doch sicher ist sicher. Ich werde eine Typ-Veränderung brauchen, wenn ich mich halbwegs sicher auf den Straßen bewegen möchte.

Entschlossen greife ich zu Brigittes Nagelschere. Ich packe Strähne für Strähne und scheide sie ab. Vorbei ist es mit den schönen, langen Haaren.

Als ich in den Spiegel schaue ist es, als würde mir eine andere Person gegenüber stehen. Nur langsam gewöhne ich mich an die Frisur, die einem fransigen Bob ähnelt.

Ich betrachte mich noch einen Augenblick lang und will gerade eigentlich wieder aus dem Bad treten, werde allerdings von einem folgenschweren Telefongespräch aufgehalten, dass ich zufällig mit meinen geübten Ohren aufschnappe.

"Ja, ich habe sie gefunden. ... Nein, sie ist noch bei uns, sie schläft noch. ... Ja, das mache ich gerne, Herr Friemann. Schnappen Sie sie sich, bevor sie wieder weg ist. Die kleine Greta ist schlau, aber naiv. Sie glaubt doch tatsächlich, wir würden ihr helfen!"

Verräter. Ich koche innerlich vor Wut. Diese Leute haben sich mein Leben lang als Freunde ausgegeben. Gibt es denn keinen mehr, auf den man sich verlassen kann?

Ich muss hier weg, und zwar ganz schnell. Leise öffne ich die Badezimmertür und schleiche mich zurück ins Gästezimmer. Meine Tasche steht immer noch am selben Platz, wo ich sie gestern hingestellt habe. Darauf bedacht, keine Geräusche zu machen, ziehe ich meine Stiefel an und streife mir den Mantel über.

Langsam drücke ich die Türklinke herunter, quetsche mich durch den kleinen Spalt und ziehe die Tür vorsichtig wieder zu. Erleichtert, bis jetzt noch nicht bemerkt worden zu sein, atme ich aus.

Mit neu gewonnenem Mut drehe ich mich um und laufe direkt in die Arme von Klaus, der sich unbemerkt hinter mich gestellt hat.

Kristalltod - Zersplitterte Seelen {Kurzgeschichte}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt