Kapitel 5 - Scherben des Lebens

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"Guten Morgen, Greta. Wo willst du denn so früh hin?", fragt er mich scheinheilig. Ich schlucke nervös.

"I..ich wollte..äh, danke für Ihre Hilfe. Ich werde jetzt gehen", krächze ich und zwinge mir ein halbherziges Lächeln auf. So kurz vor dem Ziel versagt. Es war nicht weit bis zu Dr. Dallmeiner, nur eine halbe Stunde. Es wäre ein leichtes gewesen, ihm von den wahren Geschehnissen in dem Palais Beauharnais zu erzählen und ihn von sowohl Herschels als auch meiner Unschuld zu überzeugen.

"Willst du denn nicht noch mit uns frühstücken?", bietet er mir mit einem falschen Lächeln an. "Du bist doch bestimmt hungrig."

"Ja..also nein..ich meine nein Danke. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich zum Mittag wieder zu Ihnen kommen und bei Ihnen essen", meine ich unschuldig.

Der Versuch, ihm etwas vorzuspielen, scheitert unter seinem bohrendem Blick. Ich bin eine miserable Lügnerin, das unschuldige Häschen und er der listige Fuchs. Er denkt einen Moment nach, überlegt, mich gewaltsam hier zu behalten oder mich gehen zu lassen.

"Ich kenne sonst niemanden, der mir helfen kann, dürfte ich vielleicht auch noch eine weitere Nacht bei Ihnen verbringen?", versuche ich ein weiteres Mal, ihn von meiner Ratlosigkeit und Abhängigkeit von seiner Güte zu überzeugen. Klaus Auge zuckt, dann tritt er auf Seite.

"Aber gerne." Er weist auf meine Tasche. "Die musst du doch nicht mit dir rumschleppen. Lass sie doch im Gästezimmer stehen."

"Oh ja, stimmt." Ich lache nervös und bringe die Tasche zurück. Sicherheit fordert Opfer. "Wann esst ihr?"

"Um ein Uhr." Klaus öffnet mir die Haustür. "Und pass gut auf dich auf, die Zeiten sind gefährlich!", ruft er mir mit falscher Besorgnis hinterher.

******

Ich sitze auf einer Bank in einem nahegelegen Park. Eigentlich wollte ich direkt zu Dr. Dallmeiner gehen, doch in seiner Praxis befinden sich tagsüber zu viele SS-Offiziere oder SA-Soldaten, die mich auf Anhieb als Greta Cohen erkennen und verhaften würden.

Gedankenverloren schlendere ich durch den Park, darauf bedacht, keinem ins Gesicht zu schauen.

Ich werde mich bis heute nacht versteckt halten müssen und im Schutz der Dunkelheit den Doktor aufsuchen.

Mir wird ganz mulmig bei dem Gedanken, dass man mich immer noch vorher schnappen kann und dass dann keiner je die ganze Wahrheit erfahren wird.

Es war schon einmal etwas ähnliches passiert. Ein Jude schlug einen SS-Offizier nieder, der seinen Sohn grundlos verprügelt hatte.

Am nächsten Tag hieß es, dass ein bösartiger Jude einen Offizier tötete, weil dieser seinem Sohn zu nahe gekommen war. Eine Welle des Hasses auf die ach so grausamen Juden ging los. Mehrere Juden wurden verhaftet, ihre Geschäfte geplündert und zerstört.

Wenn Ernst von Rath den Anschlag nicht überlebt, wird etwas ähnliches passieren, dass spüre ich.

*****

Der Tag war ereignislos verlaufen. Ich hatte mir etwas zu Essen kaufen können, ohne dass jemand "Das ist die Verbrecherin!" oder "Schnappt sie euch!" rief.

Mittlerweile ist es schon sieben Uhr, als ich durch die Straßen streune.

Hier und da laufen kleine Zeitungsjungen über die Gehwege und posaunen lautstark die neusten Nachrichten heraus.

"Extrablatt! Ernst von Rath ist heute gestorben! Extrablatt!"

Ich horche auf. Schnell eile ich zu einem der Jungen und krame einen Groschen aus meinem Mantel.

Kristalltod - Zersplitterte Seelen {Kurzgeschichte}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt