Schnell wende ich meinen Kopf ab, als die beiden an mir vorbeieilen und die Stufen hoch in das Gebäude nehmen. Ich spüre den stechenden Blick des unbekannten Mannes auf mir ruhen, doch ich tue so, als hätte ich nichts mitbekommen und starre auf das braune Päckchen, das ich mit zittrigen Händen umklammere.
Herschel Grünspan. Warum trug er eine Waffe bei sich? Was haben die beiden Männer vor? Familie Grünspan waren gute Freunde von uns und haben uns oft besucht. Er, seine Schwester, meine Brüder und ich haben immer zusammen gespielt. Die Grünspans waren ehrbare Juden, was ist also mit Herschel geschehen, dass er sich mit einem zwielichtigen Typen und einer Pistole in der Tasche in die Deutsche Botschaft begibt?
Ich habe Lunte gerochen, und so hechte ich die Treppe hoch, um ihnen zu folgen. Mein Gefühl sagt mir, dass da irgendetwas an der Sache faul ist.
Mit klopfendem Herzen trete ich in großen Schritten auf die Rezeption zu und bekomme gerade noch mit, wie die Dame hinter dem Tresen den beiden etwas zuruft.
"Das Büro von Ernst von Rath befindet sich im ersten Stock links!"
Ich will ihnen hinterherlaufen, doch dazu kommt es nicht.
"Nanana, junge Dame, nicht so schnell!", kläfft sie mich mit schriller Stimme an. "Wo wollen sie denn hin?"
"Zu dem Herrn .. äh", setzte ich an, merke aber, dass ich den Namen vergessen habe. Ich krame in meiner Manteltasche nach dem Zettel mit der Adresse und dem Namen des Kunden und stutze kurz. "Zu Herrn Ernst von Rath!"
"Sie müssen die Treppe hoch in den ersten Stock", informiert sie mich, aber ich eile schon in großen Schritten zur Treppe.
"Warten sie, sie müssen sich doch erst anmelden!", krächzt die Dame. Ich ignoriere ihre verzweifelten Versuche, mich zum Halten zu bringen und nehme immer zwei Stufen auf einmal.
Ein breiter Gang führt an unzähligen Türen vorbei. Die beiden Männer sind weg, wahrscheinlich schon in Ernst von Raths Büro. Nach einer kurzen Suche finde ich die richtige Tür und klopfe zaghaft an.
"Herein!"
Vorsichtig öffne ich die Tür und betrete den Raum. In der Mitte steht ein ordentlicher Schreibtisch, hinter dem ein schmächtiger Mann jungen Alters sitzt.
"Herr Ernst von Rath?"
"Ja, der bin ich. Was kann ich für sie tun, Fräulein..?"
"Greta Cohen." Unauffällig suche ich den Raum nach Herschel Grünspan und Mr. Unbekannt ab, doch sie sind weder hier noch im Nebenzimmer.
"Ich bin die Tochter ihres Arztes, Dr. Cohen. Ich bringe ihnen ihre Medikamente."
"Ah, vielen Dank. Würden Sie sie mir bitte proportionierten? Ihre benötigten Materialien befinden sich nebenan", befiehlt er mir nicht freundlich, aber auch nicht allzu unhöflich.
Brav nicke ich und begebe mich ins Nebenzimmer, wo ich das braune Paket öffne und die weißen Pillen abfülle, für jeden Tag eine bestimmte Portion unterschiedlicher Medikamente.
Ich versuche, die merkwürdige Begebenheit auf der Straße zu vergessen und rede mir ein, dass ich zu viel fantasiere und es nie eine geheime Mission oder Verschwörung gegeben hat, wie ich es in meinen geliebten Büchern immer lese.
Auf einmal wird die Tür zum Büro aufgerissen, Herschel tritt ein und hinter ihm fällt die Tür wieder ins Schloss. Ich verharre in meiner Position und beobachte, wie er mit wackeligen Händen seine Pistole auf Ernst von Rath richtet.
Er scheint mit sich zu ringen, als würde er überlegen, lieber wieder abzuhauen, da fällt sein Blick auf mich.
"G..G..Greta?", stößt er hervor und blickt zu seinem Opfer und wieder zu mir.
"Du.. du musst ihnen sagen..", stammelt er.
"Was muss ich sagen?"
"Dass..ich..dass ich das nicht wollte! Ich..ich habe keine Wahl, er..er will..aber ich nicht.."
Ich trete einen Schritt näher an ihn heran. Seine panischen Augen starren mich an, während Ernst von Rath mit offenem Mund auf seinem Platz sitzen bleibt. Da fallen mir Herschels unnatürlich geweiteten Pupillen auf, und mir geht ein Licht auf.
Diese Art von Pupillen habe ich schon einmal gesehen, als ich bei meinem Vater in der Praxis war und er einen Mann, der einen Haufen Drogen geschluckt hatte, behandeln musste.
"Sie zwingen mich..Gehirn..wä..sche..", bringt er hervor. Schweißperlen tropfen von seiner Stirn und mir wird klar, dass er das nicht ganz freiwillig macht.
"Beeil dich!", ruft eine dumpfe Männerstimme durch die geschlossene Tür.
Herschel schießt dreimal. Allerdings nicht auf den Mann, sondern auf seinen Schreibtisch. Zuerst denke ich, dass er seinen Komplizen täuschen konnte, doch plötzlich öffnet sich die Tür ein weiteres Mal und auch der andere Mann betritt den Raum, sticht Herschel etwas in den Nacken, was wie eine Spritze aussieht und raunt ein Wort in sein Ohr.
"Rache."
Herschel wiederholt das Wort. Er hört schlagartig auf zu zittern, seine Haltung versteift und sein Gesicht verhärtet sich. Er feuert zwei weitere Schüsse ab, diesmal auf Ernst von Rath gerichtet.
Im nächsten Augenblick sind er und der Unbekannte verschwunden. Von Rath fällt vom Schreibtischstuhl und robbt sich stöhnend über den Boden. Überall ist Blut. Schreie ertönen.
Panik überfällt mich, ich muss weg von hier. Einfach nur noch weg. Ich stürze durch die Tür, stolpere die Treppe hinunter, vorbei an verschreckten Menschen und renne durch die leere Empfangshalle, in der meine schweren Schritte hundertfach widerhallen.
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Kristalltod - Zersplitterte Seelen {Kurzgeschichte}
Historia CortaNovember 1938. Die fünfzehnjährige Greta Cohen ist aus dem Deutschen Reich nach Paris gereist und steht kurz davor, ein Leben in Sicherheit verbringen zu können. Wer hätte gedacht, dass sie sich ausgerechnet zur falschen Zeit am falschen Ort befinde...