runaway

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Mum schlief noch, als ich die Tür zu meinem Zimmer zuzog. Selbst dieses einfache Geräusch schien mir in dem Moment viel zu laut zu sein. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich meinen wilden Herzschlag wieder zu beruhigen.

Heute würde der Tag sein. Der Tag, auf den ich schon seit Jahren wartete und darauf hinarbeitete. Nichts würde ihn ruinieren, nichts würde mir im Weg stehen. Ich würde nicht zulassen, dass mir das jemand wegnahm.

Als ich die Augen öffnete, war es noch immer totenstill. Erleichtert stieß ich die angehaltene Luft aus meinen Lungen und schlich in die Küche um mir eine Wasserflasche zu schnappen und den Brief auf dem Tisch abzulegen. Um hundert prozentig sicher zu sein, stellte ich ihre Zigarettenpackung und meine Haustürschlüssel auf das DinA5 Blatt und schloss das winzige Fenster. Eine idiotische Sicherheitsmaßnahme, doch ich wollte nicht, dass die Frau, die mich ihr Leben lang bei sich hatte wohnen lassen, auch noch dachte ich hätte sie mit einem Haufen Geldschulden und Problemen zurückgelassen. Sollte sie doch glücklich und besoffen weiter in der Wohnung hocken und ihren gewohnten Lieblingsbeschäftigungen nachgehen. Sie könnte mein Zimmer endlich in das lang ersehnte Wohnzimmer umwandeln und die Sauferei dahin verschieben oder auf einer alten, schmuddeligen Couch vögeln, statt es im Schlafzimmer oder in der Küche zu treiben.

Mit der Wasserflasche in der Hand verließ ich die Küche schließlich und schlüpfte in meine Schuhe, ehe ich zum letzten Mal umsah. Meinen Rucksack hatte ich schon unzählige Male gecheckt und ich widerstand dem Drang, ihn erneut von meinen Schultern zu ziehen und zu kontrollieren. Nichts von den wenigen Dingen, die ich zurücklassen würde, brauchte ich auf meiner Reise, das wichtigste hatte ich eingepackt.

Kaum zu glauben, dass ich tatsächlich sentimental wurde, wo ich mir doch mein ganzes Leben lang nichts Anderes gewünscht hatte, als endlich abzuhauen. Ich atmete tief ein und öffnete die Haustür, ich sollte gehen. Je länger ich blieb, desto höher wurde Gefahr, dass meine Mutter aufwachen würde, dass sie aus ihrer Zimmertür treten und bemerkte, was im Gange war. Konnte ich inmitten eines Streites einfach so davonstürmen?

Ich schüttelte den Kopf und zog die Haustür auf. Sie quietschte leise, das tat sie schon seit Anbeginn der Zeit und als ich sie hinter mir wieder zuzog, fühlte das leise Klicken des Schlosses sich so unfassbar befreiend an, dass ich vor Freude beinahe geschrien hatte. Von jetzt an gab es kein Zurück mehr, ohne zu klingeln würde ich niemals wieder in diese Wohnung gelangen können. Ich hatte sie zugezogen, es war vorbei. Endgültig vorbei. Mit einem schwachen, ungläubigen Lächeln stieß ich die Luft aus meinen Lungen und wendete mich den Treppen nach unten zu.

Clyde, der alte Ford, wartete eine Straße weiter und beinhaltete bereits eine Decke, mein Kissen und die Kassette, die ich aus dem Zimmer meiner Mutter gestohlen hatte, als diese gerade dabei gewesen war, Dads alten Krempel wegzuwerfen. Eine Kassette mit unzähligen Songs, von denen ich mir gerne vorstellte, sie wären seine Liebsten. Songs, die mir unzählige Versionen eines Vaters zeigten und mich durch jede erdenkliche Situation meines Lebens begleitete. Ich hatte sogar dasselbe Auto gekauft, weil ich es auf einem alten Foto des Mannes gesehen hatte, der für sieben Jahre mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich meinen Kopf auf dem Lenkrad ab.

Es konnte nicht sein, dass ich ausgerechnet jetzt sentimental wurde. Nicht jetzt. Ich hatte mein Leben gehasst, es war ein furchtbares Leben. Eine verrückte Mutter, die zu kaum mehr in der Lage war, als zu rauchen und zu trinken, Männer die immer wieder in der winzigen Wohnung lebten und mit ihr Sex hatten. Der Gestank, die Unordnung. Ich hatte hart dafür gearbeitet und ich würde nicht kneifen, nur weil ich einige wenige schöne Erinnerungen mit der Stadt verband. Es würden bessere Städte kommen, größere, schönere mit cooleren Leuten, Menschen mit denen ich mich tatsächlich verstehen würde. Heute war endlich der Tag gekommen, an dem ich dieses Drecksloch verlassen konnte, auf zu neuen Abenteuern.

Ich drehte den Schlüssel und der Motor erwachte mit einem Rütteln zum Leben. Mit einem letzten Blick in Richtung der heruntergekommenen Wohnung, die für eine solch unfassbar lange Zeit mein Zuhause gewesen war, lenkte ich Clyde schließlich in den Verkehr und machte mich auf ins Ungewisse.

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