Die sichtbarlose Stadt

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Irgendwo in Polen stehen drei Menschen auf den Schienen eines Güterbahnhofs und streiten sich um einen Dollar. Es sind ein Mädchen und zwei Jungen, das kann man so sagen, weil sie noch jung sind. Die beiden Jungen vielleicht 15, das Mädchen jünger aber größer. Durch beschlagene Scheiben verschwinmt ihr Gesicht, schmale Lippen, wenn sie Redet erkennt man, dass ihr ein Schneidezahn fehlt. Sie macht den Mund nicht zu, auch wenn sie nicht spricht. Zeigt unverschämt alle Zähne und grabscht dabei nach dem Dollarschein. Einer der Jungen schubst sie. Stumm schreien sie sich alle gegenseitig an. Ein absurder Stummfilm der hinter dieser Scheibe abläuft und auf einen Cliffhanger, eine Pointe wartet. Irgendwann wird aus dem Nichts ein Zug kommen und alle drei überfahren und im Hintergrund wird ein gedachtets Publikum dem matschig roten Witz applaudieren bevor eine Putzkolonne anrückt, die Knochensplitter von den Schienen zu kratzen und sich dabei so lange um einen Dollar Trinkgeld zu streiten, bis ein Zug ankommt und so weiter und so weiter.
Am Morgen zieht dann jemand den Vorhang zu und das normale Programm läuft weiter, ganz abseits der Schienen. Da wo die Leute mit den Psychosen unter sich sind und nur am Wochenende den Picknickkorb packen um mit ihren Dreijährigen zur öffentlichen Enthauptung zu spazieren.
Ein Blinzeln, die Schienen sind leer, kein Gemetzel, vielleicht hat sich jemand an dem Schein geschnitten. Ich verrenke mir den Kopf, und suche das Gelände mit meinen Blicken nach dem Mädchen ab. Sie ist nicht da, die zwei Jungs sind auch verschwunden. Ein Zug fährt vorbei. Ich zwinge mich auf den Tisch zu starren. Dreck unter meinen Fingernägeln. Ich versuche ihn herauszukratzen. Es funktioniert nicht. Ich zittere vor Anspannung.
Die Brille, die Brille habe ich vergessen, irgendwo auf dem Weg oder im Auto, ich weiß es nichtmehr.  Ich hab die scheiß Brille vergessen.
Eine Hand zieht mir die Tasse zwischen meinen Armen weg. Sie ist leer. Die Bedinung fragt mich etwas auf polnisch, ich verstehe sie nicht. Ich starre auf die Tasse. Sie tut so, als würde sie mit der anderen Hand eine Kanne halten aus der sie Kaffee in die Tasse schüttet.
Ich nicke.
Es ist unfassbar leer. Ich weiß nicht mal, wo genau ich mich befinde, in einem Café, einer Bar, einem alten Wagen mit Bedingung.
Auf einmal steht das Mädchen in der Tür, sie grinst zahnlückig und hält triumphierend den Dollarschein in die Höhe, er ist lila. Um ihre geweiteten Pupillen schlingt sich ein geschwollener Ring aus Haut. Rötlich unterlaufene Haut und eine kleine Platzwunde an der Augenbraue. Ich habe Angst vor ihr. Und dann kommt mein Kaffee. Ich deute zur Tür. Die Bedingung schaut zur Tür, ich auch. Das Mädchen schaut zur uns, ihre Augen huschen rastlos durch den Raum. Ich kann ihr Herz bis hierher schlagen hören. Sie ist eine Jägerin so wie ich ein Jäger bin. Die Bedienung geht. Ich ziehe den Vorhang zu, ziehe ihn auf, zieht ihn zu, ziehe ihn auf. Ich trage keine Schuhe und darüber muss ich so lachen, dass ich kaum aufhören kann.

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