Klippenbrecher

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An den meisten Tagen erinnere ich mich an mein Zuhause, als an einen Ort der Sicherheit, eine Zuflucht, eine Festung. An das, was ein Zuhause sein sollte. An den wenigsten ist es die Wahrheit an die ich mich erinnere. Nicht, weil ich sie verdränge, sondern weil das menschliche Gehirn die Angewohnheit hat, die Dinge nicht so in Erinnerung zu behalten, wie sie tatsächlich geschehen sind, sondernwie sie hätten geschehen sollen. Ein Blick durch eine Michglasscheibe in ein riesiges leeres Gebäude irgendwo am Rand Frankreichs. Treppen und lose Dielen, Wind der durch Gemäuer zieht. Es richt nach gepökeltem Fleisch und Tockenfisch. Salz verfängt sich in den Härchen auf seinen Armen. Es ist fast hübsch. Ein verlassener Ort, dort wo die Stille zuhause ist. Eingebettet zwischen Feldern, Steilküsten und Wasser im Niemandsland. Eine Heimat, die nicht mal ihr eigenes Herz behält, weil es mit der Zeit immer mehr und mehr weggeweht wird.
An die Rückseite des Hauses grenzt die Steilwand an. Ich sitze in der Küche auf der Fensterbank. Die Scheibe fehlt. Es zieht durch den ganzen Raum, manchmal fallen Tassen aus Regalen, irgendwas klappert, etwas anderes zerbricht. Noch draußener stürmt es richtig. Der Himmel treibt dunkle Wellen vor sich her. Sie klatschen gegen die rauen Felskanten, ich spüre die Gischt auf meinen nackten Knien und Händen. Lasse die Beine aus dem Fenster baumeln. Es ist wie über dem Meer fliegen.
Halte mein Gesicht in den Wind und mache die Augen erst zu, als sie brennen vom Salzwasser.
"Ich gehe jetzt." Er streicht mit dem Zeigefinger meinen Rücken entlang. In der Rille neben der Wirbelsäule, links hoch und rechts runter.
Irgendwann werde ich bleiben, genau hier an diesem Ort, wo sich alles so anfühlt wie es gehört. Ein säuberlich aufgeräumter Gefühlsschrank. "Kommst du." Ich nicke, aber es war keine Frage.
Vier Finger passen in meinen Mund, ich lecke sie ab bis ich kein Salz mehr schmecke und wische sie am Saum des Kleides ab. Meine Hände kleben, ich schürfe mir ein bisschen Haut ab, als ich aus dem Fenster zurück nach innen klettere.
Klebrig feuchte Finger schlingen sich haltlos um größere trockene Finger. "Na komm schon, na komm schon." er flüstert es ganz ganz leise, als wären auch seine Worte Gischt auf meiner Haut. "Na komm, wir gehen nach Hause, wir gehen jetzt, ja?"
Ich folge ihm. Durch den Flur. Das Schlafzimmer. Die Diele. Zur Tür.
Auf einmal wird mir so übel, dass ich mich vorbeuge und mich auf meine Schuhe übergebe, es dauert lange und bestimmt ist es nicht schön anzusehen. Mein Magen krampft heftig, mein Kopf ist heiß. Ich kann nichts tun außer mir den Bauch zu halten. Irgendwann zwei Hände die mir das Erbrochene von den Schuhen wischen und es fahrig am Teppich abputzen. Zwischen flatternden Lidern erkenne ich das schwankende Treppengeländer.
Dann laufen wir in den Sturm und warten auf unsere Bestimmung. Es ist eine düstere Welt, eine düstere, düstere Welt.
Hab meinen Kopf irgendwo auf der Fensterbank vergessen. Was mache ich denn jetzt? Was denn?

4°Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt