„Also", mit durchdringendem Blick schob sie die Brille hoch, „Cat Noir und du an meinem Fenster. Mitten in der Nacht. Wo ist Ladybug? Was ist passiert?", schoss Alya im Stakkato los und bereute es direkt.
Marinette blickte mit bebendem Kinn zu Boden und rieb sich die Unterarme. Alya berührte sie sachte an der Schulter. Sie fühlte sich eisig an.
„Ow, entschuldige ... - hier", hastig riss sie die Überdecke vom Bett und legte sie ihrer Freundin um die Schultern. Etwas war gravierend schief gelaufen.
„Komm her, Süße!", zog sie sie tröstend in ihre Arme. Es war der Moment, der Marinettes gläserne Fassung sprengte und sie schluchzend an der Schulter ihrer besten Freundin lehnte. Unter Tränen versuchte sie, das Geschehene grob wiederzugeben. Bis auf die Worte „Maman", „Papa" und etwas später „Akuma" drangen jedoch nur wenige verständliche Worte zu Alya durch und sie entschied, es besser dabei zu belassen, um nicht weiter auf wunde Punkte zu drücken.
Stattdessen hangelte sie nach der Fernbedienung, in der Hoffnung, so mehr zu erfahren - und die Stille zu überbrücken, die hin und wieder durch ein unterdrücktes Nasehochziehen von Marinette unterbrochen wurde. Sie hatte sie aufs Bett bugsiert und einen warmen Tee in die Hand gedrückt. Dort saß sie, wie eine zusammengesackte Salzstatue, guckte ausdruckslos durch die Mattscheibe hindurch und zappte durch die Programme. Zuvor hatte Marinette einige Male versucht, ihre Mutter auf dem Handy zu erreichen. Wieder und wieder hatte sich die freundliche Stimme ihrer Mutter gemeldet und um eine Nachricht nach dem Piepton gebeten.
Alya stieß sich gehörig den Schädel am Regal ihres Kleiderschranks, als sie das Fragment, „ ... live vor der Dupain-Cheng-Bäckerei, wo sich seit heute Nacht dieses bemerkenswerte Bauwerk erhebt", aufschnappte. Zwei Kehlen zogen hörbar Luft ein, als die Kamera von der Berichterstatterin abrückte und zur Rue Gotlib 12 schwenkte. Die Kamera fing ein – wie dem Märchen entstiegenes – Knusperhaus ein.
Ein Knacken wurde übertragen, als sich ein türgroßer Stutenkerl durch den Eingangsbereich der früheren Bäckerei zwängte und davor Stellung nahm. Zwei untertassengroße Rosinenaugen plinsten in den Bildschirm, eine Gipspfeife wurde von Koteletten und und einem Schnurrbart aus Zuckerguss eingerahmt. Die blaue Schürze und ein Bäckerhut ließen keinen Zweifel daran, um wen es sich hier ursprünglich handelte.
Mehl rieselte in die Kamera, als er, um den Pfeifenstiel herum, zu sprechen begann. Der Kameramann musste sich wie ein Kaninchen vor der Schlange fühlen.
„Jetzt wird abgerechnet! Ladybug und Cat Noir", zwei zuckergüsserne Augenbrauen drückten die Rosinenaugen zu runzligen Halbkreisen, „Was euch fehlt, ist der letzte Schliff! Kommt her und ich verspreche, euch nicht in Watte zu packen!"
Tief grollend packte er seine Pfeife. Der Zuckerguss-Schnurrbart bewegte sich unnatürlich steif, als er in die Pfeife blies und Zuckerwatte aus dieser aufstieg. Mit einer harschen Armbewegung schleuderte er den bauschigen Rauch auf den Kameramann. Ein Ächzen war zu vernehmen. Das Bild überschlug sich und blieb auf dem Kopfsteinpflaster liegen. Die Besitzerin roter Stöckelschuhe, vermutlich die Reporterin, trieb ihre Stimme in ungeahnte Höhen, während die Absätze über das Pflaster kratzten. Ein knusperndes Knacken war zu hören.
Und dann: Stille.
Die Damenschuhe verharrten in einem satten Goldbraun.
„Oh. Mein. Gott", Alya starrte auf den Fernseher und hinderte sich mit der Hand daran, weitere Wörter aus ihren Mund herauszulassen. Marinette hatte die Augen geschlossen und den Kopf vom Fernseher abgewandt. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Der Anblick musste für sie schwer zu ertragen sein.
„Ich bin sicher, Ladybug wird sich bald darum kümmern", sprach sie mit aufmunterndem Lächeln an Marinette gewandt und tätschelte ihren Handrücken. Es hatte nur nicht den gewünschten Effekt.
Sie entzog ihre Hand der Berührung und wandte sich ab. „Bitte, Alya. Lass mich ..."
„Bitte, lass mich ... - Lass mich was?! Allein?" Himmel, sie fühlte sich mehr als allein. Ohne Tikki war sie aufgeschmissen. Es war, als ob ein Teil von ihr fehlte. Der Teil, den sie nun dringend zur Rettung ihrer Eltern benötigte.
Eine Träne tropfte viel zu laut auf die Tagesdecke, die sie in ihren Händen knüllte.
Alya regte sich neben ihr, unschlüssig darüber, was sie noch sagen könnte.
„Komm! Wir riskieren's und fahren hin. Es liegt auf dem Weg zur Schule. Viel Zeit ist eh nicht mehr", beschied sie zur Uhr gestikulierend und stemmte eine Hand in die Hüfte. Marinette schluckte und nickte tapfer. Das genügte, um Alya wieder geschäftig im Schrank wühlen zu lassen. Im Schlafanzug sollte Marinette immerhin nicht auflaufen.
***
Eile war geboten. Wer wusste schon, was genau auf ihn wartete. Hoffentlich hatte Ladybug die Situation in der Zwischenzeit unter Kontrolle. Für einen kurzen Moment verließen seine Gedanken die Gegenwart.
Er war eher zufällig in der Nähe gewesen und ohne bestimmtes Ziel herumgestreunt, nachdem sein Vater einen pedantischen Auftritt hingelegt hatte, was den zeitlichen Ablauf der kommenden Tage betraf. Genau genommen hatte er seine Anweisungen via Telefon durch Nathalie verlauten lassen und sich, wie üblich, hinter seiner Arbeit verschanzt.
Da tat es gut, sich den Ärger vom Nachtwind davonpusten zu lassen und wenigstens kurzfristig so etwas wie Freiheit zu erleben.
Als ihm bewusst wurde, dass er sich in der Nähe von Marinette befand, war er einen Moment versucht, ihr einen Besuch abzustatten, verwarf den Gedanken aber entschlossen. Jeder normale Mensch schlief um diese Uhrzeit, Frühaufsteher, die ihrer beruflichen Pflicht nachgingen, mal ausgenommen. Der Mond hatte seinen Zenit bereits deutlich überschritten. Seine Augen fingen schwach das Licht der beginnenden Dämmerung ein. Marinette zählte definitiv nicht zu den Lerchen, die überpünktlich in den Tag starteten, soviel stand fest. Er musste unweigerlich schmunzeln und wandte sich um, um den Heimweg anzutreten.
„Nein! Bitte! - Nein, niiiiicht!", seine Ohren zuckten nervös zusammen, als er das verzweifelte Flehen auffing. Er hangelte sich über einige Dächer und spähte hinter einem Schornstein auf die dürftig beleuchtete Straße. Mit schnellen Bewegungen erfassten seine Augen die Situation.
Eine Frau mittleren Alters und mit dunklen Haaren strauchelte, als sie rückwärts über das unebene Kopfsteinpflaster zurückwich. „Marinettes Mutter?", er machte sich kampfbereit, als sie bereits von einer Salve aus - „Whou, Teiglinge?!" - erfasst wurde. Der abgefeuerte Teig verschlang sie. Nach einigen unkontrollierten Zuckungen stellte Frau Cheng die Gegenwehr ein. Sie verblieb, die Hände schützend vor dem Kopf erhoben, erstarrt zurück. Ein schwacher Duft von Plätzchen und gebrannten Mandeln stieg ihm in die Nase.
Der Schatten einer massigen Gestalt zog sich ins Gebäude zurück. Von der Eingangstür ausgehend, breitete sich eine klebrige Masse aus, die das Mauerwerk empor kroch und alles unter sich begrub. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie zur Dachterrasse hochwanderten, aus der ein schwacher Lichtschimmer nach außen drang.
„Marinette!" Von da an war alles furchtbar schnell gegangen.
„Plagg, verwandle mich!"
Sein Kwami riss sich übellaunig mit den Pfoten die unteren Augenlider herunter, was dem Katzengesicht etwas Fratzenhaftes verlieh. Mit einem Fauchen wurde er rückwärts in den Ring gesogen. Plagg war verwandlungsfaul. Er kooperierte nur gegen Käse. Und doch war er gewissermaßen sein engster Vertrauter.
Cat Noir streckte die Glieder. Ein Stück der einsetzenden Müdigkeit war gewichen, als er sich verwandelte. Erneut setzte er Kurs auf die Bäckerei. Bereit, einzuschreiten und seiner Lady den Rücken zu stärken. Hoffentlich nahm sie ihm sein verzögertes Eintreffen nicht allzu übel.
***
Ausstaffiert mit etwas zu weiten Klamotten und einem geliehenen Rucksack hatte sie eilig das Haus verlassen und preschte hinter Alya durch den beginnenden Morgen.
Marinette versuchte, eine halbwegs angenehme Position auf dem Gepäckträger zu finden, während sie sich um Alyas Hüfte klammerte und darauf baute, dass sie ohne Schürfwunden am Ziel ankamen.
Sie hoffte inständig, dass es Tikki gut ging. Etwas anderes mochte sie sich nicht vorstellen. Der Geruch nach gebackenem Brot, Mandeln und Gebäck lag in der Luft und zeigte, dass sie sich in unmittelbarer Nähe befanden. An anderen Tagen hätte sie den Duft tief eingeatmet. Heute sorgte er für einen eisigen Klumpen in der Magengegend.
„Da - wären wir ... Oh. Wow!", Alya bremste so gut es eben ging. Um ein Haar hätte sich Marinettes Hosenbein in der Kette verheddert. Ungelenk sprang sie ab und konnte den Fall nur durch ihre Handflächen abbremsen. Alya schaute mit großen Augen auf das Knusperhaus, das vormals Marinettes Zuhause gewesen war.
„Okaaay, das ist schon ein bisschen gruselig. So plastisch und mit DEM Geruch." Alya sprach hochkonzentriert in ihr Handy und beschrieb den Anblick für die Besucher ihres Blogs.
Eine kleine Menschentraube hatte sich gebildet und beäugte mit einer Mischung aus Argwohn und Sensationslust den Schauplatz. Ein Polizist war dabei, den Raum großflächig abzusperren.
Das war der Moment in dem Marinette die erstarrte Silhouette ihrer Mutter auf dem Pflaster erkannte.
„Maman!", sie streckte die Hand nach ihr aus.
„Zurücktreten, bitte!", wies der Polizist sie an, ohne einen zweiten Blick an sie zu verschwenden.
„Es hat ein bisschen was von Hänsel und Gretel, findet ihr nicht?", schallte es von den Dächern über ihnen. Seinen Kampfstab schwingend, stieß sich Cat Noir herab und landete vor dem Eingangsbereich. „Ein Kater landet immer auf seinen Pfoten!"
Marinette schnaubte trocken. „Von wegen!" Als Ladybug hätte sie sicherlich einen passenden Spruch entgegnet.
„Knusper, knusper, knäuschen!", lockte der Kater und suchte sich Ärger. Spielerisch klopfte er mit dem Handgelenk an die reich verzierte Lebkuchentür. „Mmmmmh, kandierte Kirschen!", er war im Begriff, die Deko zu kosten, als die Tür aufschwang.
„Uh? Bist du die Hexe?", flachste er weiter.
„Schluss jetzt mit den flachen Witzen!", dröhnte die Stimme des Stutenmanns und drängte auf die Straße. Eine Teigsalve schoss in Richtung der Menschenmasse und hinterließ einige Keksstatuen.
Panik brach aus.
Cat Noir sprang für die Passanten in die Bresche und wirbelte seinen Stab im irren Tempo zur Abwehr. Es hagelte Teigklumpen, die ohne menschliches Ziel rasch auf dem Boden verpufften. Marinette wich ihnen aus und erreichte mit pochenden Schläfen die Seitenwand des Gebäudes.
Ihr akumatisierter Vater befand sich seitlich vor ihr und nahm Cat Noir weiter in die Mangel. Drohend schwang er ein Nudelholz und rammte es mit voller Wucht auf den Boden. Marinette krallte sich an der Wand entlang, dem Eingang entgegen.
Das Kopfsteinpflaster bäumte sich auf wie beim Rodeo, riss und begann sich wie ein Teig einzurollen. Sie schaute entsetzt in Cats Richtung, der alle Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Es war wohl lediglich seinen katzenhaften Reflexen zu verdanken, dass er nicht umfiel, sondern zur Seite hechtete. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Ein Anflug von Schuld durchfuhr sie siedend heiß, als sich seine Augen erschrocken weiteten. Sie erreichte die Tür und schob sich hinein. Sie musste ihrem Partner schnellstmöglich zur Hilfe eilen!
Die Luft im Inneren war süß und schwer. Ihre Schritte schmatzten auf dem klebrigen Untergrund. Selbst innen war alles mit Teig ummantelt. Zuckergussschrift setzte gekonnt Akzente, wand sich in filigranen Mustern die Wände empor. Auf dem Wohnzimmertisch erblühte ein Tulpenstrauß aus rotem Fondant. Marinette hechtete die Treppe hinauf, fest entschlossen, Tikki zu finden. Angewidert zog sie die Hand vom Treppenlauf und wischte sich die klebrigen Rückstände im geborgten Hoodie ab. Hoffentlich hatte Alya zur Abwechslung die Flucht angetreten und quatschte nicht unbekümmert ins Handy. Sie erreichte die Bodenluke, die in ihr Zimmer führte.
„Tikki?", suchend drehte sie sich im Zimmer herum. In der Realität ein Traum aus Rosa und Pink, erstrahlte ihr Raum auch jetzt in ähnlichen Farben, nur waren Zuckerguss und Fondant die Hauptkomponenten. Ihre Collage aus Bildern von Adrien war detailgetreu mit Zuckerguss nachgezogen. Er strahlte, auf jede erdenkliche Weise, zuckersüß aus seinem Rahmen. Verzückt strich sie über ein einzelnes Foto von ihm und erlag der Versuchung es mitzunehmen. Seufzend wanderte es in ihre Hosentasche. Damit schüttelte sie den Gedanken an Adrien beiseite. Sie hatte zu tun. Für derlei Sentimentalitäten war jetzt keine Zeit.
„Tikki?", raunte sie erneut in den Raum und registrierte die sie umgebene Stille. Der Kampflärm, der eben noch von draußen zu ihr heraufgedrungen war, war verstummt. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Auf der Chaiselongue hatte sie sie zuletzt liegen sehen.
Nichts.
Sie zog an den Schubladen ihres Schreibtisches. Vielleicht hatte sie sich ja dort versteckt? Die Schachtel, die ihr Tagebuch verbarg, fiel ihr entgegen. Rosa Fondant mit weißen Polka Dots. „Na, klasse. Nicht, dass er jetzt in der Lage ist, es aufzubrechen und zu ..." - Es wäre fatal, wenn ihr Vater in seiner jetzigen Form von ihrem Geheimnis erfuhr. Da könnte sie sich auch direkt an Hawk Moth ausliefern! Hastig stopfte sie das Case in den geliehenen Rucksack und schickte ein „Danke, Alya!" gen Straße.
„Tikki? Tik-", etwas in ihr zerbarst. Ihre Augen hatten einen kleinen roten Kleks, am Rande der Chaiselongue liegend, registriert.
"Oh nein. Nein, nein, nein!" Behutsam hob sie Tikki von den Lebkuchenplatten, die das Fischgrätenmuster ihres Parketts perfekt imitierten. Zärtlich strich sie über den Kopf ihres kleinen Kwamis, dessen Augen vor Schreck weit aufgerissen waren. Feine Schokoladenspritzer waren an ihren Mundwinkeln angedeutet. Der Rest ihrer Freundin war zu einem Plätzchen verbacken. Was für eine Ironie des Schicksals.
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Der Customizer
FanfictionMarinettes Vater, Tom Dupain, wird akumatisiert und treibt als riesiger Stutenkerl sein Unwesen. Marinette wird von Cat Noir gegen ihren Willen aus ihrem Zimmer gerettet und muss Tikki zurücklassen. Es dauert nicht lange, bis die Presse auf Marinett...