Le Chat et sa Fille

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Mit dem Zeigefinger fuhr Marinette die bunten Verzweigungen auf dem Netzplan der Pariser U-Bahn entlang. Ihr Magen rumorte geräuschvoll. Ein Blick zur Uhr verriet, dass es auf Mittag zuging. Rasch prüfte sie den Abfahrtsplan. Sie hatte Glück. Mit etwas Beeilung würde sie es gerade noch schaffen; damit hechtete sie die Treppen hinab.

Sie sprang durch die sich schließenden Türen in die Métro und straffte die Schulterriemen des Rucksacks. Mit sanftem Ruck fuhr die U-Bahn an. Sie ließ sich auf einem der mittleren Plätze nieder und war dankbar für eine kurze Verschnaufpause. Ihr Magen machte sich wieder unangenehm bemerkbar, doch sie hatte nicht einmal Geld für eine Fahrkarte.
„Es sei denn ...", dachte sie.
Hoffnungsvoll machte sie sich an der kleinen Tasche des Rucksacks zu schaffen und förderte 3,42€ ans Tageslicht. Das reichte bei weitem nicht für eine Fahrkarte ins 13. Arrondissement.
Sie seufzte und wollte sich müde zurücklehnen, als ihr Blick auf den gegenüberliegenden Bildschirm fiel.
Der Monitor zeigte stumm die Videosequenz der vergangenen Nacht. Darunter prankte in großen Lettern „Le Chat et sa Fille: Marinette Dupain-Cheng. La fin de 'Lady Noir'?" (übersetzt: „Der Kater und sein Mädchen ... Das Ende von 'Lady Noir'?").
Alyas Video musste - binnen Stunden - reißenden Umsatz gefunden haben. Das Löschen war sinnlos gewesen. Auf dem nächsten Bild winkte Cat Noir verlegen in die Kamera.
Marinette verdrehte die Augen. Sie ließ sich tiefer in den Sitz sinken und presste die Augen zusammen. „Schönen Dank auch, das fehlte jetzt gerade noch."
„Ist sie das?", eine Frau mittleren Alters blickte forschend in ihre Richtung und ließ die wenigen Köpfe zu ihr herumfahren.
Marinette rutschte noch tiefer und presste sich den Rucksack vors Gesicht.
„Madame, die Fahrkarte bitte!", für einen kurzen Moment wurde die Fragestellerin in ihrer Neugier gestoppt und fischte in ihrer Tasche.
„Da soll noch einer sagen, dass Marienkäfer Glück bringen ...", dachte sie. Hoffnungsvoll spähte Marinette zur Ausgangstür, als sich die Métro verlangsamte.
Ohne Zeit zu verlieren, spurtete sie zur Tür hinaus, den Rucksack fest umklammert. Ein erzürntes „Hey!" wehte ihr hinterher, als sie wartende Fahrgäste im Lauf anrempelte. Nach kurzem Sprint hielt sie inne, um sich zu orientieren.
Der Geruch von Essen ließ ihren Magen erneut aufschreien. Sie steuerte auf einen Falafel-Stand zu und versuchte zugleich Preistafel und Passanten im Auge zu behalten. In einem Krimi würde das wohl ziemlich verdächtig wirken.
Ein Geschäft witternd, legte der Standinhaber das Smartphone beiseite.
„Hi! Ähm, was bekomme ich hierfür?", Marinette legte das zusammengekratzte Geld auf den Verkaufstresen.
Der Mund des Verkäufers stand für einen kurzen Moment offen. Marinette rechnete bereits damit, erneut fliehen zu müssen.
„Ah, Katzenmädchen, ja? Reicht für große Portion!", offerierte er ihr in gebrochenem Französisch. Mit geübten Handgriffen schaufelte er Falafel, Petersilie, Tsatsiki und Tomaten in eine Brothälfte, die er ihr schwungvoll überreichte.
„Grüße an Kater!"
Marinette blinzelte und nickte mit vorsichtig dosiertem Lächeln, bevor sie dankend davonlief.
„Gerade mal eine Station weiter." Missmutig schlenderte sie die Treppe hinauf, um im nahe gelegenen Stadtpark unterzutauchen. Sie ließ sich auf einer Parkbank nieder und biss beherzt in die noch dampfenden Falafel.
Ein paar Angestellte genossen dort ihre Mittagspause, doch die meisten schienen in ihr Smartphone oder eine Zeitung vertieft zu sein.
„Was hat sich Cat Noir dabei nur gedacht?" Sie schien in aller Munde zu sein. Morgen würde ihr Gesicht auf jeder Zeitung zu sehen sein. Eine zweifelhafte Ehre. Sie zog die Knie an, aß und überlegte.

***

„Alya und ihr vermaledeiter Blog! Ich hätte es wissen müssen", schalt er sich innerlich.
Stattdessen war er ihr, mit Marinette auf den Armen, in die Falle getappt. Immerhin hatte er seine Identität wahren können. Marinette hingegen hatte weniger Glück gehabt. Er hoffte, dass die ganzen Nachrichten nicht ein falsches Bild von ihm suggerierten.
Die Worte der Journalistin kreisten in seinem Kopf. „'Steht Ladybugs Abwesenheit in Verbindung zu Ihren romantischen Gefühlen gegenüber Marinette Dupain-Cheng?' Wie kommt man auf so einen Holzweg?", er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte, von der Frage völlig überrumpelt, Reißaus genommen.
„Ladybug", seine Heldin blieb unauffindbar. Seine Nachrichten stapelten sich in ihrer Mailbox.
„Schönen Dank auch. Das haben wir jetzt von zu viel Anonymität." Ohne Ladybug konnte er den Akuma nicht fangen. Gereizt und müde ließ er sich auf einem der Dächer nieder. Eine Pause täte jetzt gut. Erschöpft lehnte er an einem der Schornsteine, seine Augen ruhten auf der Parklandschaft unter ihm. Kindergeschrei drang vom angrenzenden Spielplatz zu ihm herauf, einige Besucher genossen ihre Mittagspause auf Bänken oder flanierten durch den Park.
Er wollte die Augen bereits schließen, als sie an zwei schwarzhaarigen Zöpfen hängen blieben. „Das kann doch nicht -!" Er raufte sich die Haare und atmete geräuschvoll aus. „Was führt sie jetzt im Schilde?" Mit bleierner Müdigkeit stieß er sich zu ihr hinab.

„Keine Schule, Marinette?", näherte er sich ihrem Rücken.
Diese fuhr erschrocken zu ihm herum und hätte beinahe ihre Falafel fallen gelassen.
„Cat? Was machst du hier?"
„Dasselbe könnte ich dich auch fragen", damit schwang er sich über die Rückenlehne und blieb vor ihr stehen. „Auf ein Wort?", er reichte ihr die Hand.
Zeitungspapier raschelte aufgeregt in ihrer Nähe und Gemurmel erhob sich unter den Parkbesuchern, als sie die Situation erfassten. Smartphones wurden gezückt. Marinette schulterte den Rucksack und blickte wie ein scheues Reh um sich.
„Cat Noir!", rief eine Stimme, wiederum andere zeigten mit dem Finger auf Marinette. Spätestens morgen Abend würde sich auch ihr Name eingebrannt haben. Galant schirmte er die Blicke mit seinem Rücken ab, bevor er ihr die Hand um die Hüfte legte und sich mit ihr im Arm in die Luft abstieß.
„Also?", sie kamen auf einem Flachdach zum Stehen. „Was machst du hier in dieser Gegend?"
Marinette seufzte, „Madame Bustier hat mich vom Unterricht freigestellt, als sie einen Streit zwischen mir und Chloé Bourgeois mitbekommen hat. Chloé ist gewissermaßen meine Erzrivalin."
„Wow, du lässt auch keinen Ärger aus, was?", kommentierte der Kater.
„Was? Nein, so war das nicht. SIE hat angefangen! Und alles nur wegen Alyas Video. Chloé ist auf mich losgegangen wie eine Furie wegen der 'Prinzessinnen-Sache'", sie malte mit den Fingern dicke Anführungszeichen in die Luft.
Der Kater zwinkerte mit großen Augen und kommentierte es mit: „Chloé ist halt – Chloé."
„Genau DAS hat Alya auch gesagt. Letztendlich hat sie es wohl nur gesagt, um davon abzulenken, dass sie das Video hochgeladen hat", schüttete Marinette ihm ihr Herz aus.
Der Kater seufzte verständnisvoll. „Ja, das war wohl etwas – unüberlegt", er ließ offen, ob er sich damit auf seine Wortwahl oder auf Alyas Handeln bezog.
„Nicht nur das, sie hat mich vorher ZIEMLICH in die Mangel genommen."
„So?", sein Magen rebellierte hörbar angesichts der Falafeln. Sowohl er als auch Marinette lachten nervös.
„Hier. Nimm ruhig. Auch Superhelden müssen bei Kräften bleiben."
Hungrig machte er sich darüber her.
„Alya hat dich aufgefogen, weil ich dich PRIMFEFFIN genannt hab?", brachte er unter einigen Anstrengungen hervor.
„Oh, wenn du es so sagst, klingt das fantastisch!", kicherte Marinette.
Cat Noir rollte mit den Augen und schluckte. „Die hier sind fantastisch!"
„Ja. Und ja" Sie strich sich verlegen eine Strähne hinters Ohr. „Wusstest du, dass es auf Alyas Blog sogar eine Bezeichnung für Ladybug und dich als Paar gibt? - 'Lady Noir'."
Dem Kater blieb ein Bissen im Halse stecken. Sie klopfte ihm den Rücken.
„Danke", er blinzelte die Tränenflüssigkeit zurück und rang nach Atem.
„Schon in Ordnung. Immerhin keine Fellbällchen", zwinkerte Marinette.
„Hm, Katzenwitze?", murrte der Kater, „Welchen Namen sich die Presse sich wohl für uns ausdenkt. - 'Katzinette', 'Mari-Katz'?"
Marinette lief rot an.
„Schläfst du eigentlich nie, Marinette?", versuchte er das Gespräch auf weniger gefährliches Terrain zu lenken, „Ich jedenfalls wüsste, was ich an deiner Stelle jetzt täte. Stattdessen reist du durch die Gegend. - Also: Was machst du hier?"
Marinette blickte zu Boden und rang nach Worten.
Cat Noir bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. „Nicht, dass Alya am Ende doch Recht behält und Marinette tatsächlich in mich – nein, Cat Noir - verliebt ist?", schoss es ihm durch den Kopf.
„Oh, ich – na ja, Zuhause kann ich im Moment schlecht unterkommen. Ich bin auf dem Weg zu Meister F..., äh, Meister Cheng Shifu? - Mein Großonkel."
„Cheng Shifu? Der Chefkoch? Er ist hier? Ich dachte, er wäre in China." Cat Noir blickte sie erstaunt an.
„Uhm, ja! Das heißt: nein! Er war in China, ja, aber jetzt ist er hier. Also, nachdem er gehört hat, was geschehen ist", endete sie kurzatmig.
Cat Noir nickte. „Ich verstehe. Tut mir leid, dass ich darauf noch herumgeritten bin. Also bist du nicht ...", er lachte verlegen und zeigte vage mit dem Zeigefinger erst in ihre und dann in seine Richtung, „... du bist nicht wegen mir in der Nähe?"
„WAS?" für einen kurzen Moment legte sie eine Gesichtsentgleisung hin.
Sie schluckte. „Cat Noir macht mir jetzt nicht ernsthaft auch noch in meiner Zivilform hübsche Augen, oder?", dachte sie. Verlegen kratzte sie sich am Kopf. „Ich meine, nein. Nicht, dass du nicht ...", - Wie hatte Alya ihn genannt – HEISS? - Nein, auf gar keinen Fall! Sie rang nach passenden Worten. „Ich finde dich ... Du bist - toll." - Nicht annähernd so toll, wie Adrien. Wenn hier einer heiß ist, dann er. - Himmel! Wieso denke ich jetzt an Adrien? Konzentriere dich, Marinette! „ - Toll! Jaaa, du bist ein toller Kater!", sie prustete wie nach einem Tausendmeter-Lauf und vermied es, ihm in die Augen zu blicken.
„Oooookay?", Cat Noir blickte sie amüsiert an. Sie klang anfangs so ehrlich entsetzt, dass es ihm einen Stich versetzte, wurde dann aber knatschrot, was ihre Worte Lügen strafte.
„Wer hätte das gedacht ...", dachte er amüsiert.
„Tja, Ich fürchte, momentan sind wir beide Stadtgespräch. An der Situation bin ich wohl nicht ganz unschuldig", unterbrach er die entstandene Stille, „Ich könnte dich bei deinem Onkel absetzen. Also, wenn du willst." Zögernd bot er ihr den Arm.
„Gerne. Das wäre -"
„- Toll?", zwinkerte er ihr zu und grinste unverhohlen.
„Herzlichen Glückwunsch, jetzt hält er mich für total bescheuert", ging es ihr durch den Kopf. Sie atmete hörbar durch zusammengebissene Zähne. „Gehen wir einfach."
„Dein Wunsch sei mir Befehl, Prinzessin", damit umschlang er ihre Taille und hob sie in die Lüfte.
Marinette war es schon fast unangenehm, wie nahe sie sich waren. Das leichte Klingen seines Glöckchens bei Bewegungen, sein Haar, das sie an der Wange kitzelte. Es war zu plötzlich, zu nah.
„Du musst mir schon noch sagen, wohin die Reise gehen soll", meldete sich Cat Noir an ihrem Ohr. Seine Stimme klang angenehm und bescherte ihr eine leichte Gänsehaut. Marinette schalt sich eine elendige Lügnerin.
„Ich muss ins 13. Arrondissement – Chinatown. Wenn du mich bei der Station 'Olympiades' absetzen kannst, wäre das t... - fantastisch!", sie schüttelte angesichts ihrer stümperhaften Ausdrucksweise den Kopf und spürte, wie sich der Brustkorb ihres Partners schnell hob und senkte.
Cat Noir unterdrückte ein Lachen. Ihre Zopfenden kitzelten ihn oberhalb des Schlüsselbeins.
„Bist du sicher? Ich meine, ich könnte dich auch direkt zu ihm bringen."
„Um ehrlich zu sein, ich war noch nie dort. Ich denke, ich werde Meister Shifu anrufen, wenn ich angekommen bin. Dann kann er mich von der Station abholen", sie kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe.
„Ah, in Ordnung."
„Er klingt enttäuscht", dachte Marinette und fühlte sich unbehaglich.
„Ich denke, in Chinatown falle ich weniger auf, wenn ich nicht von einem großen, schwarzen Kater begleitet werde", fügte sie scherzend an, aber es entsprach auch schlicht der Wahrheit.
„Klingt einleuchtend", klang es dicht an ihrem Ohr.
Mit leisem Bedauern löste sie sich von ihm, als ihre kurze Reise ein Ende nahm.
„Also dann -" Sie nickte ihm zu. „Danke, Cat."
„Gern geschehen, Prinzessin." Nach einer angedeuteten Verbeugung schwang er sich hinauf und ließ sie zurück. Ihr kurzer Aufenthalt ließ einige Passanten innehalten und das Handy zücken. Sie verlor keine Zeit und tauchte in den engen Gassen unter, auf der Suche nach Meister Fu.

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