Kapitel 1

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Träge schleppte er seine Füße durch den tiefen Schlamm. Der pampige Morast klebte an den alten Lederstiefeln, die tiefe Abdrücke hinterließen. Die Luft wurde immer kühler, der Boden härter, die Vegetation kahler, je weiter er lief. Hinter sich, am Horizont, konnte er noch grob die von dichtem Nebel ummantelten Bergspitzen der Gebirgskette sehen, die sie wohl zwei Tage lang überschritten hatten, um hierher zu kommen. „Wir müssten bald da sein", meinte er, „dort hinten, die Hügel, sie sind schneebedeckt." Ein zweiter junger Mann, sie waren beide ungefähr achtzehn Sommer alt, war hinter ihm hergelaufen. Sein schweißnasses, schulterlanges Haar hing in blonden Strähnen in sein Gesicht. Er schleppte seinen großen, muskelbepackten Körper voran, wobei ihm jeder Schritt erneut ein bisschen seiner Kraft nahm. „Müssten?" Misstrauisch sah er seinen Kumpanen an. „Ich kann nicht mehr- Levi! Sieben Tage Reise- über Berg und Tal, durch Felder und diesen..." Er zog seinen Lederschuh mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Schlamm. „Diesen verdammten Sumpf." Der andere junge Mann, das komplette Gegenstück zum blonden Hünen, seufzte laut. „Ich weiß es, Codien, wir haben es bald geschafft. Hinter diesen Hügeln, da muss Atra sein. Dann haben wir es geschafft. Dann sind wir am Ziel. Von der Hauptstadt aus können wir alles erreichen." Codien zog erneut seinen Schuh aus dem tiefen, klebrigen Schlamm. Sie waren seit Tagesanbruch durch eine Schneise gegangen, deren Weg mitten durch den tiefen Nadelforst führte. Fichten, Tannen und Lärchen ragten über zwanzig Ellen in die Höhe. Schon seit dem Morgen waberten dichte Nebelschwaden durch den Wald und machten keine Anstalten, jemals zu verschwinden. Trotzdem konnte man in der Ferne Hügel entdecken. Sie waren schneebedeckt und nur von wenigen Nadelbäumen und kleineren Sträuchern bewachsen. „Ich weiß nicht einmal, warum du unbedingt in die dunkle Stadt reisen möchtest. Und ich kann es auch ehrlich nicht nachvollziehen. Manchmal könnte ich mich selbst ohrfeigen, dass ich mitgekommen bin", meckerte Codien. Levi schmunzelte. „Nun, du hättest auch in Sol bleiben können." „Und dich dafür alleine lassen?" Codien schüttelte den Kopf. „Ich verstehe zwar nicht, warum du die blühenden und duftenden, smaragdgrünen Wiesen, mintgrünen Täler und goldenen Sandstrände des Sonnenreichs gegen diese schlammige, kalte Einöde getauscht hast. In dessen Hauptstadt auch noch tiefster Schnee liegen soll! Aber du bist mein bester Freund- beinahe wie ein Bruder für mich. Wenn du dir schon die Idee für diese dämliche Reise in den Kopf setzt, dann lasse ich dich zumindest nicht alleine gehen. Wäre dir nur etwas zugestoßen und ich wäre nicht mit dir gegangen- ich würde mir auf ewig Vorwürfe deswegen machen. Aber ganz ehrlich- warum das Schattenreich? Wieso nicht die Provinz Montis? Wunderschönes Bergpanorama. Oder noch besser- die Provinz Insula. Bezaubernde Tropenstrände mit bunten Korallenriffen! Du weißt doch, was man sich über das Schattenreich und seine Bewohner erzählt. Du kannst mir nicht sagen, dass dir das keine Angst macht." „Auch die Schatten sind Menschen", sprach Levi und zuckte mit den Schultern. Sein Blick war an die Hügel geheftet, die aussahen wie ein mit Zucker bestreuter Kuchen. „Es mögen viele Dinge stimmen, die sich die Sonnen über die Schatten erzählen. Aber es sind trotz allem Menschen." „Menschen? Sie sind gefühlskalte Monster." Levi verdrehte die Augen. „Sie brauchen Hilfe, Codien." Er strich mit seinen dürren Fingern über die Saiten der Laute, die er an einem Strick um seinen Hals trug. „Unsere Hilfe." „Sie brauchen keine Gaukler. Sie hassen Gaukler- besonders Musiker wie dich." Er zeigte auf die Laute. „Sie würden eher Insekten besser behandeln als unseresgleichen. Mit Musik und Spiel können sie nichts anfangen. Ganz ehrlich- würden sie uns gleich nach unserer Ankunft in den Kerker werfen, es würde mich nicht wundern." Levi drehte sich abrupt um. Der Boden unter seinen Füßen war ein wenig härter geworden. Er hielt seinen Freund an der Schulter fest, sodass dieser ihm in die Augen sehen musste. „Was sollen wir denn im Sonnenreich? Sol feiert Tag und Nacht. Sol- das Zentrum der Gaukler, Feste und Barden. Ich habe noch nie einen Bewohner getroffen, der nur ansatzweise schlechte Laune hatte. Alle sind gut gelaunt und fröhlich- sie tanzen und singen sechs Tage die Woche- vom Morgengrauen bis tief in die Nacht. Nein, diese Menschen brauchen die Musik nicht, um ihre Gefühle zu finden. Die Trübseligen, Traurigen, meinetwegen auch Gefühlskalten brauchen die Musik. Verstehst du nicht Codien, nur wir, wir Gaukler, haben von der Sonnengöttin die Gabe bekommen, diesen Menschen mit unserer Kunst, unserem Handwerk, selbst einen traurigen fröhlich zu machen. Einen Menschen, der den Weg zu seinen Gefühlen nicht wiederfindet, emotionsvoll zu machen. Ja, die Schatten sind unangenehme Zeitgenossen, da stimme ich dir zu. Aber sie können nichts dafür, dass sie im kalten, düsteren Teil der Himmelreiche leben. Hinter den Hügeln liegt Atra, die Hauptstadt. Dort möchte ich beginnen. Ich habe es einst bei der Sonnengöttin geschworen, Codien. Ich habe diesen Schwur lange genug vernachlässigt und habe mich um die Sonnen gekümmert. Jetzt sind es die Schatten, für die ich spielen möchte. Es ist nicht mehr weit. Komm schon, wir schaffen das."

Je näher sich die beiden Gaukler den Hügeln näherten, desto gefrorener wurde der Boden. Immer weniger Bäume zierten den Wegrand und die Luft kühlte rasch ab. Die beiden trugen nur einfache Leinenhemden, Lederschuhe und Lederhosen. Levi besaß noch eine braune Wollweste, die ihn ansatzweise warm hielt. Doch an seinen Armen bildete sich bald Gänsehaut und er begann zu bibbern. Es dauerte nicht lang, da drang die Kälte auch in Codien ein. Wie weißer Rauch sah der heftig ausgepustete Atem aus. In immer kleiner werdenden Abständen fielen Schneeflocken auf die Erde nieder und bedeckten den breiten Pfad, den die zwei Reisenden entlanggingen. Mühsam kämpften sie sich mit eiskalten Füßen den Hügel hinauf. Im Tal unter ihnen lag eine gigantisch große Stadt. Tausende von Steinhäusern, aus deren Schornsteine es heftig rauchte und aus deren Fenstern schwaches Kerzenlicht drang. Ein paar von ihnen hatten einfache Strohdächer oder Holzdächer. Nur wenige waren mit dünnen Platten aus nachtschwarzem Schiefer bedeckt. Diese Häuser bildeten wie eine Schutzmauer um den riesigen Königspalast, der sich in ihrem Zentrum auf einer steinernen Erhöhung befand, die sich deutlich von den armen Hütten abhob. Sie besaß acht Türme, wovon zwei bis hoch in den Himmel ragten. Drei pechschwarze Raben umkreisten die Spitze des höchsten Turmes. Die Dächer waren mit Schieferplatten gedeckt, majestätische Basaltsäulen zierten die Burg zusätzlich. Sie stellten ehemalige Könige, Generäle und Legenden dar. Im Westen rann ein breiter Fluss den Hügel entlang und mündete in einen kleinen See, auf dem dicke Eisschollen trieben. Levi entwich ein erstauntes Geräusch. „Ich wusste ja, dass die dunkle Stadt riesig ist. Aber so groß..." Bis zum Horizont konnte man Steinhäuser sehen, wenn es der Nebel überhaupt zuließ. Er ging einen Schritt auf die gewaltige Stadt zu. Unterhalb des Hügels konnte er sehen, wie sich der einfache Trampelpfad zu einer mit Basalt gepflasterten Straße verwandelte, deren Großteil von Schnee bedeckt war. Codien stand stocksteif da. Atra war gigantisch. Noch nie hatte er eine so riesige Stadt gesehen, außer vielleicht Sol. Und auch diese noch nie aus der unglaublichen Perspektive, aus der er gerade auf die dunkle Stadt heruntersah. Nicht umsonst wurde sie die „dunkle Stadt" genannt. Die Verwendung von Steinen wie Basalt und Schiefer ließ die Stadt düster wirken. Sol nannten die meisten Sonnen die „goldene Stadt". Die Häuser dort waren aus Lehm oder sogar hellem Sandstein und die Dächer gedeckt mit leuchtend roten Ziegeln. Um sie herum- riesige Maisfelder, Blumenwiesen und Weinberge. Sol war viel bunter, viel lebhafter. Und trotzdem hatte die dunkle Stadt etwas, das ihn in ihren Bann zog. Codien zuckte zusammen, als er eine einzelne Schneeflocke auf seinem Arm spürte. „Wir sollten uns eine Unterkunft suchen", meinte er, „es wird nicht wärmer, je länger wir hier warten." Levi nickte. Beide schritten den Weg entlang, der sie in das Zentrum der Stadt führte. Alle Türen waren verriegelt. Kein einziger Schatten war auf den Straßen unterwegs. Sie schienen sich wie Schildkröten in ihrem Panzer verkrochen zu haben. „Da vorne!", rief Codien, „zum Bären. Das sieht mir nach einem Wirtshaus aus." Die beiden eilten zu dem Steingebäude, das sich etwa dreimal so groß wie die anderen Häuser vor ihnen erhoben hatte. Von innen hörte man ein paar Stimmen und heller Kerzenschein drang durch die milchigen Fensterscheiben. Levi ergriff einen schweren Eisenring, mit dem er dreimal an die Tür schlug. Von innen hörte er erst ein lautes Poltern, dann ein wütendes Fluchen. Die sperrige Holztür öffnete sich einen Spalt breit, sodass der Insasse die beiden Reisenden sehen konnte. „Ja?", maulte er die Gaukler an. Er begann die späten Gäste von oben bis unten zu mustern. Doch als er die Laute um Levis Hals sah, verzog er angewidert sein Gesicht. „Schert euch fort!", schalte er und schlug die Tür zu. Während sich die Gaukler niedergeschlagen von der Tür der möglichen Unterkunft entfernten, fragte Codien schnippisch: „Was habe ich dir nochmal zum Thema Gaukler gesagt?" Levi verdrehte die Augen. „Vielleicht hat er einfach nur einen schlechten Tag. Er hat schon drinnen so herumgeschimpft. Wir versuchen es einfach weiter, es wird ja wohl in Atra mehr Wirtshäuser geben als nur dieses eine." Die beiden machten kehrt und zogen weiter. Die wenigen Menschen, die sich bei diesem Wetter aus den Häusern gewagt hatten, huschten schnell in das warme Innere. Ein paar hoben die Köpfe, als die Gaukler an ihnen vorbeischritten, doch sahen sie entweder schnell weg oder sie wendeten spöttisch das Gesicht von ihnen ab. Sie gelangten in eine Gasse, bei der auf jeder Straßenseite eine Gaststube war. Diesmal war es Codien, der an die Tür klopfte. Ein kleiner, griesgrämiger Mann öffnete. „Was wollt ihr hier?", murrte er. „Wir haben eine weite Reise hinter uns und suchen einen Schlafplatz", antwortete Codien, „wir kommen aus dem Sonnenreich und..." „Geht doch dahin, wo ihr hergekommen seid!", donnerte der Wirt, „elende Sonnen- verzieht euch!" Und auch er schlug die Tür zu. Ratlos sahen sich die zwei Gaukler an. „Wir müssen es weiter versuchen." Levi wendete sich von der Tür ab und drehte sich zur Straße. „Wir werden gewiss etwas finden."


Emotionen- Kampf der HimmelreicheWhere stories live. Discover now