Gegen Sonnenaufgang mussten die Gaukler das Wirtshaus verlassen. Raban hatte sie rechtzeitig geweckt, sodass sie vor der Ankunft seines Vaters weg sein konnten. Wieder und wieder hatte er sich für den Auftritt am gestrigen Abend bedankt und sich dafür entschuldigt, ihnen nicht für eine weitere Nacht Unterschlupf gewähren zu können. Vorher hatte er den beiden noch jeweils eine alte Jacke und eine Decke mitgegeben. Da in der Nacht erneut Schnee gefallen war und die Temperaturen kontinuierlich weiter sanken, war das ein willkommenes Geschenk für die Gaukler. Eine ganze Elle hoch stand der Schnee vor der Tür, sodass Codien diese mit aller Kraft aufstemmen musste. Nebelschwaden hingen wie Schleier über den Straßen. Wenige Aträer waren dabei ihre Häuser zu verlassen, um ihr tägliches Handwerk zu vollbringen. Ein Großteil der Bevölkerung Atras lebte nämlich von der Jagd. Der durch den Frost ziemlich unfruchtbar gewordene Boden konnte schließlich nicht bestellt und die Erzeugnisse nicht verkauft werden, weshalb die Jagd eine der wenigen guten Einnahmequellen für die ärmlichen Bürger darstellte. Codien und Levi stapften durch den Tiefschnee die Straße entlang in Richtung des Flusses, den sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten. Die lange, harte Reise hatte ihnen nicht nur ihre Kräfte abverlangt, sondern auch ihren ganzen Proviant zuneige gehen lassen. Mit ihren Feldflaschen in der Hand wanderten sie durch die Gassen. „Wie viel haben wir noch?", wollte Codien schließlich wissen. „Was meinst du?" „Nahrung. Wie viel haben wir noch?" Levi nahm den ledernen Reiserucksack ab, in dem er während der Reise Brot, Trockenfleisch, Hartkäse und Getränke aufbewahrt hatte. Er griff in den Beutel hinein, nahm zwei Scheiben Brot heraus und zeigte sie daraufhin dem Freund. „Nicht mehr?" Er schüttelte den Kopf und drückte ihm eines der Stücke Brot in die Hand. „Wir brauchen neuen Proviant." Er seufzte laut. „Das ist nicht unser einziges Problem", warf Codien ein, „sollen wir etwa die nächste Nacht draußen verbringen?" „Wir werden etwas finden. Ein anderes Wirtshaus oder eine Gaststube." „Haben wir noch genug Geld dafür?" Codien nahm den seinen Lederrucksack, in dem er neben Getränken auch Geld für die Reise vom Sonnenreich bis zum Schattenreich aufbewahrt hatte." „Einen ganzen Beutel noch." Erleichtert atmete er auf und hielt den prallvollen Beutel in die Höhe. „Gib mal her." Levi zog eine Augenbraue hoch woraufhin er ihm den Beutel aus der Hand nahm und ihn öffnete. Niedergeschlagen griff er hinein, nahm eine Münze heraus und hielt sie Codien unter die Nase. „Das sind Goldmünzen", seufzte er, „daran hätte ich vorher denken müssen." „Was ist denn das Problem?" Er nahm ihm den Beutel wieder ab und sah selbst hinein. „Das ist genug um für mindestens einen Monat hier unterzukommen." „Das ist es nicht. Die Menge passt, darum müssten wir uns keine Sorgen machen. Aber... die Schatten zahlen ausschließlich mit Silber. Ich glaube nicht, dass wir hier auch mit den Goldtalern aus dem Sonnenreich handeln können. Sie werden sie nicht annehmen. Wir haben also nichts!" Sein Freund ergriff die Goldmünze. Auf die Vorderseite war das Wappen des Sonnenreiches geprägt, eine strahlende Sonne. Auf der Rückseite befand sich das Porträt des amtierenden Königs, König August von Sonnenfels. Codien drehte das glatte Geldstück in seinen Fingern. „Wer regiert eigentlich im Schattenreich?", fragte er nachdenklich, während er das Bild seines Königs betrachtete. „Das müsste König René Raven sein", murmelte der Barde. Codien strich sich eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht. „Woher weißt du das?" Levi zuckte mit den Schultern. „Ach, meine Mutter war eine Zeit lang am Hof des Königs August von Sonnenfels als Gauklerin tätig. Der König liebte ihr bezauberndes Harfenspiel. Er glaubte, dass sie mit ihrer faszinierenden Musik alle Probleme wegspielen konnte- zumindest behauptete er dies. Nun ja, da sie am Hofe viel Zeit verbrachte, hielt ich mich ebenfalls dort auf. Ich erinnere mich, wie der König des Schattenreiches einmal den Unseren besucht hat. Ein besonderes Ereignis, weil er nach dem großen Krieg der beiden Reiche der erste Schattenkönig war, der einen Fuß in das verfeindete Reich setzte. Doch jede Magd, jeder Stallbursche, jedes Dienstmädchen fürchtete sich vor diesem Herrscher." „Warum?" „Weißt du, er war gerade erst gekrönt worden, doch sah er bereits mit Arroganz auf alle herab, sogar auf König August. Er war bösartig und manipulierte sein Gegenüber, sobald er nur den Mund aufmachte. Bösartig und tyrannisch- er bestätigte uns das Bild, das wir von den Schatten hatten. Beinahe sogar noch grässlicher. Er genoss es, wie die Bediensteten erzitterten, sobald er an ihnen vorrüberging. Ich hatte bis dahin noch nie eine so kalte, grausame Person gesehen." „Weiß man, warum er König August besucht hat?" Levi schüttelte den Kopf. „Nein. Naja, man munkelte es seinen diplomatische Gespräche gewesen, die ihn hergeführt hätten. Allerdings kann ich das nicht so wirklich glauben. Ich meine, ein Diplomat verhält sich gewiss anders." Codien sah zu Boden. Seine abgenutzten Lederschuhe waren schon halb durchnässt und an seinem Hosenbein klebte der Schnee. Oder eher der weiße Fluch, wie man ihn im Sonnenreich nannte. „Schau, da ist endlich der Fluss!", rief Levi aus. Er beschleunigte seine Schritte und näherte sich dem quellenden Wasser. Zum Glück war der Fluss nicht ganz zugefroren. Das schnell fließende Wasser erlaubte es dem Eis nicht, sich ganz auszubreiten. Er kniete sich am Ufer nieder und tauchte seine Flasche in das Wasser. Codien tat es ihm gleich. Mit einem leisen Gluckern füllten sich die Feldflaschen. Er nahm zwei weitere Flaschen aus dem Rucksack und füllte sie ebenfalls, bevor er sie mit einem Korken verschloss. Obwohl das Flusswasser furchtbar kalt war, wuschen sie Schmutz und Schweiß von Gesichtern, Armen und Beinen ab. Sie merkten gar nicht, wie sich ihnen eine düstere Gestalt näherte. Sie hatte sich eine schwarze Kapuze tief ins Gesicht gezogen und trug einen langen Mantel. Mit ihrer vor Kälte weißgewordenen Hand näherte sie sich langsam dem Gaukler. Er erkannte die Hand nur im Augenwinkel, fuhr rasch herum und packte reflexartig die Gestalt am Handgelenk. „Hey!", rief die Person und versuchte sich aus dem starken Griff des Gauklers zu befreien. Codien packte nun auch die zweite Hand, mit der die Person wild herumfuchtelte. Sie versuchte sich zu wehren, stolperte über ihre eigenen Füße und fiel rücklinks in den Schnee. Als sie sich irgendwie wieder aufgerappelt hatte, war die schwarze Kapuze von ihrem Kopf gerutscht und gab den Blick auf das Gesicht frei, in das kurze braune Strähnen gefallen waren. „Moment, dich kenne ich doch", stellte Levi fest. „Du bist doch einer unserer Zuhörer von gestern Abend, oder?" Noch immer zappelte die Person. „Könnt Ihr mich bitte loslassen?" „Codien, lass ihn los. Er ist der Junge, der uns gestern Abend zugehört hat." Der Gaukler zog den Jungen nach unten, sodass er neben ihnen im Schnee landete und öffnete seine Hände. „Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken, Bursche?" Dieser zog sich die Kapuze wieder ins Gesicht hinein. „Es tut mir leid", nuschelte er. „Du kannst froh sein, dass ich dich nicht geohrfeigt habe! Ich hatte dich für einen Soldaten, oder schlimmer noch, für einen Assassinen gehalten! Mach das bloß nie wieder, klar?" Der Kleine nickte. Mit seinen Fingern fuhr er an seiner linken Wange entlang, auf der er sich bei dem Sturz eine Schramme zugezogen hatte. „Ich hatte Angst." „Vor uns?" „Nein, Angst entdeckt zu werden." „Darum also dieser Kapuzenmantel?" Erneut nickte er. „Man sollte mich nicht dabei sehen, wie ich mit Gauklern spreche. Wenn mich ein Soldat des Königspalastes gesehen hätte, oder ein anderer Aträer, der mich daraufhin angeschwärzt hätte... Das hätte nicht nur mich, sondern auch euch in Schwierigkeiten gebracht. Ihr solltet wirklich nicht so offensichtlich herumlaufen!" Er deutete auf die Laute. „Es gibt Menschen hier, die alles tun würden, um euch am Galgen zu sehen." „Aber, die Soldaten gestern?" „Ihr hattet Glück. Glück, dass sie so erpicht darauf waren, Kriegslegenden zu hören. Ihr solltet euch nicht auf das Glück verlassen." „Wieso bist du dann zu uns gekommen, wenn es doch so gefährlich ist, sich bei uns aufzuhalten?" „Um euch zu warnen." Der Junge sah die beiden Gaukler mit seinen dunkelbraunen Augen mahnend an. „Ich war so begeistert von dem, was ihr gestern gemacht habt. Ich mag euch ziemlich gern. Diese...Musik...sie hat mir, nun, nicht wirklich gefallen, aber... ich mag sie doch irgendwie. Ihretwegen sollt ihr nicht sterben. Und wenn ihr keine Genehmigung habt- und davon gehe ich aus- dann solltet ihr nicht in der Öffentlichkeit mit eurem Instrument herumlaufen und das Schicksal herausfordern." „Moment- es gibt eine Lizenz dafür musizieren zu dürfen?" „Nicht ganz. Aber, es gibt eine Marktgenehmigung. Ich nehme an, ihr möchtet mit eurer Musik Geld verdienen, sonst wärt ihr ja wahrscheinlich nicht hier. Jeder Händler, jeder Künstler, der auf den Straßen Geld verdienen möchte, braucht diese Genehmigung. Es ist ein königlicher Bescheid, dass euer Geschäft vom Königshaus aus erlaubt wird. Das heißt, ihr dürft nicht mehr von den Soldaten verhaftet werden, wenn ihnen die Art des Geschäftes nicht passt." „Sagst du da etwa, es gibt ein Blatt Papier, das uns vor dem Kerker bewahrt, wenn wir in der Öffentlichkeit musizieren?" „Sozusagen. Voraussetzend es werden keine Beschwerden eingereicht, dann kann euch nämlich diese Lizenz wieder entzogen werden." „Dann los, holen wir uns diesen Wisch!" Codien sprang auf und wollte loslaufen, doch diesmal hielt der Junge ihn fest. „So leicht ist das leider nicht. Mein Vater musste für die Genehmigung kämpfen. Und er verkauft nur das gejagte Wild. Die Königin höchstpersönlich muss diesen Bescheid unterschreiben." „Königin? Ich dachte das Schattenreich wird von einem König regiert!" „Er ist vor zwei Jahren verstorben. Seitdem regiert seine Ehefrau, Tiana Raven das Schattenreich." „Sie kann ja wohl nicht schlimmer sein als ihr lieber Gatte." Levi schmunzelte. „Falsch gedacht. Die meisten Aträer fürchten die Königin noch viel mehr als wir König René gefürchtet haben. Seit dem Tod ihres Mannes ist sie total kaltherzig. Sie lässt kaum jemanden in ihre Nähe, außer ihren Berater den Fürsten. Wer auch immer in den letzten zwei Jahren sie besuchte, oder versuchte, mit ihr zu sprechen, etwas zu diskutieren, der ist aus dem Palast nicht mehr herausgekommen. Der König war vielleicht ein unangenehmer Zeitgenosse, nicht zu unterschätzen. Aber die Königin ist gefährlich, ein Monster." Hektisch sah er sich um. Aus dem Nebel tauchten zwei Mägde auf, die sich mit großen Wäschekörben dem Fluss näherten. „Ich sollte gehen", flüsterte er, „ ich habe euch viel zu viel gesagt. Das hätte ich nicht tun sollen." Er senkte seinen Kopf, zog den Mantel noch enger an seinen Körper heran und sprang auf. „Passt auf euch auf", sprach er noch, während er den beiden Gauklern einen letzten Schulterblick zuwarf und dann in den dichten Nebelschleiern, die die dunkle Stadt wie eine Mauer umgaben, verschwand. Verwirrt sahen sich die Gaukler an. „Ein komischer Junge", murmelte Codien. „Tja. Immerhin hat er uns einen Tipp gegeben, der unser Leben retten könnte." „Sekunde, du hast wirklich vor, diese Lizenz zu besorgen?" Levi erhob sich und klopfte den Schnee von seiner Kleidung ab. „Wenn ich die Wahl habe einer gefürchteten Königin gegenüberzutreten, auf den Straßen Atras zu verhungern oder von tyrannischen Soldaten verschleppt zu werden, wähle ich ganz klar Ersteres. Wir brauchen das Geld, Codien. Und wir brauchen die Musik. Deswegen sind wir doch hier!" „Du hast Option Nummer vier vergessen", entgegnete Codien, „alles packen was wir haben und in die Heimat zurückkehren- solange wir noch dazu in der Lage sind!" „Wie sollen wir denn so weit kommen? Ohne Verpflegung? Der ganze Weg soll doch nicht umsonst gewesen sein. Wir haben uns bis hierher ins Schattenreich nach Atra gequält, sind durch die Felder des Sonnenreiches gestreift, über die Bergkette der Provinz Montis gewandert, haben den dichten Birkenwald und das Sumpfland durchquert um jetzt wo wir hier sind einfach aufzugeben und umzukehren? Ich werde mir diese Genehmigung holen! Nichts kann mich daran hindern, auch nicht diese ominöse Königin." „Und wo sollen wir heute übernachten? Und was sollen wir essen? Ich meine, mit diesen zwei Stück Brot kommen wir schließlich nicht weit." „Darum kümmern wir uns später. Lass uns erst zum Palast gehen. Wenn wir sowieso keine Audienz gestattet bekommen, können wir uns gleich auf die Suche nach einer Unterkunft machen." Codien zuckte mit den Schultern. „Du bist total verrückt!" Levi schmunzelte. „Ich weiß." Nun huschte auch ein Lächeln über Codiens Gesicht. „Wenn ich gewusst hätte worauf ich mich damals einlasse, als ich dich eingeladen habe mit mir durch das Land zu ziehen... Ich hätte es mir gewiss noch einmal gründlich überlegt! Aber wahrscheinlich wäre meine Entscheidung gleich gewesen. Wieso musst du nur so stur sein!" Er griff nach seinem Rucksack und packte die gefüllten Wasserflaschen ein. „Außerdem, sollten wir gleich in den Kerker geworfen werden, weiß ich wenigstens, dass ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen habe." Der Barde verdrehte die Augen. „Du denkst auch nur an Essen, oder?" Codien zeigte an seinem großen, muskulösen Körper herab. Eigentlich ergab es keinen Sinn, dass sich der Gaukler so vor einem Soldaten fürchtete. Er könnte es locker mit einem von ihnen aufnehmen, war er doch mit seiner Größe von über zwei Ellen größer als einige der Königsgarde, zudem seine Bärenstärke. Levi hatte noch nie erlebt, das Codien diese Kraft genutzt hätte, egal ob zum Angriff oder Verteidigung. „Dieser Körper braucht eine große Menge Treibstoff, klar?" „Natürlich." Der Barde lachte laut auf, sodass sich die zwei Schatten, die am Fluss ihre Wäsche wuschen, genervt zu den beiden Gauklern umdrehten. „Sonnen", zischte eine von ihnen, „wie ich dieses Volk hasse." Die andere, die gerade ein feines, schwarzes Seidenkleid ins Wasser tauchte, starrte nur stumm auf ihr Spiegelbild. Die schulterlangen, grauen Locken waren ihr bei der Arbeit ins Gesicht gefallen. Levi betrachtete die beiden Arbeitenden misstrauisch. „Lass uns einfach gehen, Codien." Dieser nickte. Auch er hatte die hasserfüllten Worte nur zu deutlich wahrgenommen. Er richtete seinen Blick in Richtung Himmel. Die riesigen rabenschwarzen Türme des Palastes stachen wie riesige Dornen in den düsteren Himmel hinauf. Der Gaukler schluckte. „Okay...lass uns gehen."
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Emotionen- Kampf der Himmelreiche
RomanceDie Himmelreiche sind gespalten durch Vorurteile. Im Sonnenreich werden die Schattenreichbewohner als gefühlskalte, grausame Monster gesehen; das komplette Gegenteil zu den heiteren, unbekümmerten Sonnenreichbewohnern. Und ausgerechnet in dieses Rei...