Kapitel 4

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Der neugefallene Schnee knirschte unter ihren Füßen. Immer heftiger fielen die dicken Flocken auf sie herab und bedeckten ihren schwarzen Umhang. Die sanfte, dünne Seide ihres bodenlangen, nachtschwarzen Kleides wehte in dem eisigen Wind um ihre Beine. Mit entschlossenen, schnellen Schritten ging sie durch den eingeschneiten Garten. Suchend sah sie sich um. Die Büsche, Sträucher und Blumen lagen wie unter einem Betttuch versteckt vor ihr. Sie verlangsamte ihre Schritte und näherte sich einem hohen Stein. Vor ihm machte sie schließlich Halt und strich mit ihren dünnen Fingern, die in pechschwarzen aus Satin gefertigten Handschuhen steckten den Schnee von dem Stein, sodass man die Inschrift darauf lesen konnte. Seufzend nahm sie die Kapuze, die sie sich tief in das Gesicht gezogen hatte, herab. Brustlange, nachtschwarze Locken fielen an ihren Schultern hinunter. Stumm betrachtete sie die goldenen Lettern, die tief in den Stein hineingraviert waren. „René Raven", murmelte sie, während sie eine einzelne, blutrote Rose, deren Blütenblätter von Reif überzogen waren, in ihren Fingern drehte. Obwohl die langen, spitzen Dornen dieser Blume ihr in die zarten Finger stachen, verzog sie keine einzige Miene. Diese Rose wirkte wie ein kleiner, bunter Farbtupfer in der kalten, düsteren Winterwelt, in der Schwarz und das Weiß des Schnees dominierten. Wie ein Stück Liebe, ein Stück Hoffnung. Oder auch ein Stück Trauer. „Zwei Jahre ist das also schon her. Und jetzt schau nur an, was aus uns geworden ist. Was aus mir geworden ist." Sie sah auf das Grab herab. „Genau", sprach sie, als hätte sie aus dem Begräbnis eine Antwort empfangen. „Du bist tot und ich? Tja... Glaube mir, das hier", sie sah an ihrem Körper herab, „ist keinesfalls besser als der Tod." Sie kniete auf dem gefrorenen Boden nieder und legte mit andächtigen Bewegungen die Rose auf dem Grab nieder. „Nein, soweit hätte es nicht kommen müssen", sprach sie, während sie die kleine Blume auf dem Grabe betrachtete. „Nie hätte es soweit kommen dürfen. Wie konntest du das uns antun, wie konntest du es mir antun?" „Entschuldigt, Majestät." Die junge Frau zuckte zusammen und erhob sich rasch vom Boden des königlichen Gartens. „Was stört Ihr mich, Fürst Selvor?", fuhr die junge Dame ihn an, „ist es etwa zu viel verlangt, am Todestag meines Gatten alleine Zeit hier an seinem Grab zu verbringen und zu trauern? Ich wünsche alleingelassen zu werden." „Tut mir leid, Euch gestört zu haben, Königin, aber ihr wisst gewiss, warum ich gekommen bin." Sein Blick fiel auf die Rose, die die Königin niedergelegt hatte. „Ist es nicht unglaublich? Nur zwei Jahre ist es her, dass mein Cousin von uns geschieden ist. Und das auf eine solch' grausame Weise. Es ist für mich unverständlich, wie es nur gelingen konnte." „Es war ein Assassinenangriff", erklärte die Königin, „niemand hätte das vorhersagen können. Nicht einmal ich konnte diesem Untergrundkämpfer etwas entgegensetzen." Der Fürst schüttelte den Kopf. „Nun... Tiana" „Für Euch, immer noch Majestät", zischte sie mit scharfer Stimme. „Ich weiß nur zu gut, warum ihr mich hier belästigt, Fürst", sprach sie. „Ich weiß, dass es mir als Frau nicht gestattet ist, alleine zu regieren." „Es ist nun einmal das Gesetz. Und es wurde aus gutem Grund eingerichtet. Eine Frau an der Spitze des mächtigsten Reiches der Himmelreiche ist ein zu leichtes Ziel, ein zu schwaches Ziel- verzeiht- für die Feinde und Angreifer des Schattenreiches. Keine Frau war jemals so lange alleine an der Macht, wie Ihr, Königin. Das Volk wird ungeduldig. Ich habe Euch die Zeit gelassen, die Ihr braucht, um einen derartigen Verlust zu verarbeiten. Aber es bleibt keine Zeit mehr übrig. Ihr müsst heiraten, Majestät. Wir brauchen einen König, einen starken Herrscher auf dem Thron." „So wie Ihr, meint Ihr?" Ihre kalten, blauen Augen warfen denen des älteren Fürsten vernichtende Blicke zu. „Nicht, dass ich mich als Euer Freier bekennen würde. Dennoch stelle ich als Fürst der Provinz der Eisinseln Gelu, als langjähriger Berater der Königsfamilie, oberster General über das Heer und Cousin des Königs eine Möglichkeit für Euch dar, den Thron würdig zu stärken und..." „Vergesst es", donnerte die Königin, „verschwindet! Ich wünsche in Ruhe gelassen zu werden, Fürst. Wagt es nicht mir heute noch einmal unter die Augen zu treten." „Majestät, es geht mir doch nur um das Wohl des Schattenreichs!" „Ver-schwindet!", presste jene hervor. Ihr kreidebleiches Gesicht war purpurrot angelaufen. Der Fürst rückte sein goldenes Monokel zurecht. Genervt senkte er den Kopf und räusperte sich. „Wie Ihr verlangt, Majestät." Mit langsamen Schritten entfernte er sich von der Ruhestätte seines Cousins. Er warf der Königin einen letzten Blick zu, der nur so vor Kälte und Zorn strotzte. „Ihr werdet schon sehen", flüsterte er, „Euch wird keine Wahl mehr bleiben. Euch wird die Zeit ausgehen. Lasst es lieber nicht darauf ankommen." Er packte das gusseiserne Tor, das den unruhigen Schlosshof vom Palastgarten trennte und knallte es hinter sich zu. Die Arme vor dem dicken Bauch verschränkt, hetzte er quer über den Schlosshof. „Mein Fürst!" Selvor ignorierte die Rufe des Wächters, der ihm in seiner schwarzen Rüstung hinterhergeeilt war. „Mein Fürst!" Selvor verdrehte die Augen und blieb stehen. „Was wollt Ihr denn, Niran?", maulte er den jungen Wächter an. Niran hob das Visier seines Helmes an, sodass er dem Fürsten in die Augen sehen konnte. „Es sind soeben zwei junge Männer an die Pforten des Palastes gekommen. Sie bitten um die Audienz der Königin." „So lasst sie draußen", gellte der Fürst, „die Königin hat mir klar zu Verständnis gegeben, dass sie keinen in ihrer Nähe duldet. Sie trauert." „Tja, also..." Niran sah zum Tor. „Wir haben sie schon reingelassen." „Ihr habt- was?" „Es sind Gaukler. Einer von ihnen trägt eine Laute bei sich. Wir wollten sie erst nicht reinlassen, aber sie erwünschen tatsächlich eine Genehmigung, von der Königin ausgestellt." „Ihr habt Gaukler in unsere Mauern gelassen?" Die Wangen des Fürsten liefen violett an. Entsetzte, blubbernde Geräusche entwichen seinem Mund. „Was seid ihr nur für unnütze Wächter? Werft diese Bande sofort in den Kerker, verstanden? Die Majestät duldet keine Gaukler -diese landstreichenden Nichtsnutze- in Atra und erst Recht nicht in ihrem Palast!" „Gaukler?" Die Königin war dem Geschrei gefolgt und hatte den Schlossgarten verlassen. Verwirrt sah sie den verlegenen Wächter an. „Ihr habt tatsächlich Gaukler eingelassen?" Triumphierend betrachtete der Fürsten den Wächter. „Was wollen sie?", fragte sie mit eiserner Stimme. „Sie erbitten die königliche Genehmigung zum freien Marktrecht." Niran sah beschämt zu Boden. „Nun denn. Lasst sie eintreten." „Wie bitte?" Selvor konnte es nicht fassen. Hatte die Königin nicht jeden Freier, jede Magd, jeden Besucher abgelehnt und herauskomplimentiert? Warum wollte sie, hatte sie noch vorhin so deprimiert und schockiert an dem Grabe ihres Gatten getrauert, dem unbeliebten Volk aus dem Sonnenreich Aufmerksamkeit schenken? „Er soll sie eintreten lassen", wiederholte Königin Tiana, „ich möchte mir diese Gaukler selbst ansehen und mir ein eigenes Bild von ihnen machen." „Das, das ist doch...", stammelte der Fürst. Sein faltiges Gesicht war zinnoberrot angelaufen. Seine ergrauten, kurzen Haare standen ihm zu Berge. „Führt sie in den Thronsaal, Niran", befahl Tiana. Der junge Wächter verbeugte sich knapp. „Zu Befehl." Während der Wächter zum großen Haupttor lief, um die Gaukler abzuholen, machte die Königin rasch auf dem Absatz kehrt, schlug dem Fürsten ihre langen Locken ins Gesicht und marschierte auf das mit kunstvoll gemeißelten Ornamenten geschmückte Haupttor zu, dass in die wichtigsten Räumlichkeiten des Königspalastes führte. Fassungslos starrte der Fürst ihr hinterher. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er das Tor, durch das die Königin gerade verschwunden war. „Wie kann sie es wagen", presste er hervor. „Na wartet, Ihr werdet schon sehen." Mit feurigen Augen fuhr er herum. Hinter seinem Rücken hatte er zwei klare Stimmen vernommen. Wie giftige Insekten musterte er die beiden Gaukler, die soeben den Hof betreten hatten. Niran führte sie gerade in Richtung des edlen Tores. Einer von ihnen, der Hänfling, trug sogar noch eines seiner „Instrumente" mit sich herum. Am liebsten hätte der Fürst die Gäste sofort im Kerker verschwinden lassen. In irgendeinem dunklen Loch. So hatten es die Sonnen nicht anders verdient. Von diesem Volk war nichts Gutes zu erwarten. Sonnen in Atra, das würde Unheil bedeuten. Der Fürst rückte sein Monokel zurecht. Wie auch immer, lange würden es die zwei Sonnen nicht in Atra aushalten. Dafür würde er schon sorgen.


Emotionen- Kampf der HimmelreicheWhere stories live. Discover now