Liv hatte Wort gehalten. Nur wenige Zeit nach der Begegnung mit den Gauklern war sie aus dem Palast gekommen. Sie hatte allerdings die dunkle Haube, die sie als Magd tragen musste, durch einen langen, braunen Kapuzenmantel aus Leinen ersetzt, den sie wie ein Schild um sich gehüllt hatte, um in Atra nicht aufzufallen. Sie führte die zwei Gaukler quer durch die unruhige Hauptstadt des Schattenreiches, bis sie ziemlich in der Nähe des Wirtshauses, in dem sie am vorherigen Abend gespielt hatten, das Häuschen fanden, in dem die alte Magd lebte. Es war ein für den Bau der Schatten typisches Bruchsteinhaus mit dickem Strohdach und zwei schmalen Fenstern. Liv nahm den Schlüssel aus der Tasche ihres Mantels und sperrte die Tür auf. „Hereinspaziert", sprach sie feierlich. „Ich weiß es ist ziemlich klein, aber..." „Es ist perfekt", versicherte ihr Codien. Die Alte lächelte verlegen. „Ich habe hier unten zwei Matratzen. Und Decken sind hier auch irgendwo. Ihr könnt euch ein gemütliches Lager zurechtmachen. Ich koche derzeit etwas." Noch immer verblüfft über die Gastfreundschaft der Magd kramten Levi und Codien die Matratzen heraus. Sie hörten wie es in der Kochstube kurz schepperte und dann sahen sie auch schon wie Liv einen gusseisernen Kessel gefüllt mit Wasser an über einer etwas im Boden versenkten Feuerstelle erhitzte. „Ihr seid Sonnen. Was führt euch her?", fragte sie, während sie in Scheiben geschnittenes Gemüse in den Topf gab. „Ein Auftrag", gab Levi zur Antwort. „Im Auftrag eures Königs?" „Nein, es geht eher um eine persönlichere Mission." Levi hatte nicht einmal Codien genauer gesagt, welche Mission er hatte, beziehungsweise wer ihm diese aufgetragen hatte. „Trotzdem- ihr seid wahrhaftig die ersten Reisenden aus dem Sonnenreich die ich hier in Atra gesehen habe. Es trauen sich nicht viele Sonnen hierher, wie ihr vermutlich wisst. Tja, die Gerüchte. Ich weiß doch, was man sich in Sol so alles erzählt. Aber Atra hat auch seine Gerüchteküche." Sie räusperte sich. „Was habt ihr am Hofe gesucht? Wart ihr nur wegen der Marktgenehmigung da?" „Ja. Also, nein. Der größte Grund für unseren Besuch war diese Lizenz." „War ziemlich leichtsinnig von euch, wenn ihr mich fragt. Keiner hat seit Jahren mit der Königin richtig gesprochen. König René hat früher höchstpersönlich mit den Steuereintreibern die Abgaben eingesammelt. Sie hat sich hier nie blicken lassen." „Aber du arbeitest doch für sie. Hast du keinen Kontakt zu ihr?" Liv schüttelte den Kopf. „Ich bin nur eine einfache Magd. Die höheren Bediensteten, wie der Fürst oder die Dienstmädchen haben vielleicht mehr Kontakt." „Sie wollte aber mit uns sprechen. Ich verstehe nicht, warum sie dann so...feindselig geworden ist." Liv zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war sie am Anfang zu neugierig, um euch einfach wegzuschicken." „Ich muss wieder zu ihr. Also- mit ihr sprechen", murmelte Levi. Liv ließ den Kochlöffel, mit dem sie in dem Kessel herumgerührt hatte, wie eine heiße Kartoffel auf den Kesselrand fallen. „Niemals- du kannst von Glück reden dass ihr wieder unversehrt aus dem Palast herausgekommen seid. Wundert mich sowieso..." „Ich weiß, irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Vielleicht kann ich ihr helfen. Womöglich kann die Musik ihr ja helfen. Wenn sie es mich nur einmal versuchen ließe. Und außerdem brauche ich diese komische Genehmigung. Das Gauklergeschäft ist das Einzige, mit dem ich Geld verdienen kann. Wir können dir schließlich nicht ewig auf der Tasche liegen." „Sie wird sie euch nicht geben. Man muss tatsächlich um diese Genehmigung kämpfen." „Gut, dann werde ich das tun wenn es sein muss." Liv seufzte. „Und wenn du im Kerker landest? Ist es das wert?" „Für mich schon", entgegnete der Barde. Codien verdrehte die Augen. „Du willst die Königin auch wirklich nur wegen der Lizenz und deinem ‚Auftrag' sehen?" Levi hustete. „Natürlich! Hast du sie noch alle?" Liv kicherte. „Ich frage ja nur", sprach Codien mit einem Schmunzeln im Gesicht. „Es hat sich ja herausgestellt, dass sie viel jünger ist als vermutet." Levi boxte seinem Freund in die Seite. „Hör' sofort auf mir das zu unterstellen!" „So, nehmt Platz ihr zwei", sprach die alte Magd, „bevor ihr euch noch darüber streitet." Sie stellte zwei Schüsseln mit dampfender Suppe auf den Tisch. „Das duftet ja köstlich", stellte Codien fest. Er ließ einen großen Löffel Suppe in seinem Mund verschwinden. Die wohltuende Wärme befreite ihn von der Kälte, die sich über den Morgen verteilt in ihm angesammelt hatte. „Wart ihr eigentlich schon einmal verliebt?" Levi verschluckte sich beinahe an seinem Löffel Suppe. „Ihr sollt aufhören mir das..." „Es ist eine allgemeine Frage." Liv grinste. „Wenn wir schon beim Thema sind." Codien nickte und sah in die Suppe hinein. „Ja klar. In Dalia die Tänzerin, Melody die Flötenspielerin, Lyra aus der Provinz Avium..." „Du hast Jamina vergessen, die Apothekerin aus der Provinz Montis", fügte Levi hinzu. Codien seufzte. „Aus gutem Grund." „Wohl keine glückliche Romanze?" Codien schüttelte den Kopf. „Es ist schwer, als Gaukler eine gescheite Beziehung aufzubauen. Man weiß nie wann man das Land verlässt oder wann man zurückkehrt. Jamina musste sehr früh zurück in die Provinz...Tja, es hat wohl einfach nicht sein sollen." Er sah zu Levi hinüber. „Jetzt bin ich aber gespannt, mein Freund." „Ich möchte ungern darüber reden." Codien zwinkerte Liv zu. „Also gibt es da jemanden." „Nein! Aber wie du sagst, es ist schwer als ‚Vagabund', zu jemandem eine längere Bindung aufzubauen." Er seufzte. „Aber ich war in der Tat mal verliebt. Da war ich aber noch klein. Gerade sieben Sonnen." „Das interessiert mich jetzt aber!" Codien ließ den Löffel in die Suppe fallen und stützte seinen Kopf in die beiden Hände. „Nichts Besonderes. Nur eine Schwärmerei. Wir waren ja, also meine Mutter und ich, eine Weile am Hofe des Königs. Während sie dort gespielt hat, habe ich entweder bei anderen Barden Unterricht genommen oder draußen gespielt. Und ja, ich habe am Hofe oft die Prinzessin gesehen. Sie hat ebenfalls mit ihrem Kindermädchen gespielt oder hat meiner Mutter und anderen Musikern zugehört..." „Aha!", stieß Codien hervor und klatschte in die Hände. „Du hast wohl ein Faible für Frauen von königlicher Herkunft." „Codien, ich war sieben! Und ich habe mich furchtbar gefühlt. Wir durften nicht einmal zusammen spielen, der König hielt das für unangebracht." „Soso, also die Prinzessin Aurora von Sonnenfels. Interessant." Liv kicherte. „Tja, sie war ja schon ein hübsches Ding. Ich kann mich nicht mehr gut an sie erinnern, aber ich weiß noch dass sie so lange, goldene Locken und ein herrliches Lachen besaß. Das hört man hier im Schattenreich nicht mehr...Deswegen bin ich auch so froh, euch bei mir zu haben." „Moment- du kennt die Prinzessin?" „Ich war ihr Kindermädchen." „Als Schatte?" Liv schüttelte den Kopf. „Wie kommt ihr denn darauf, dass ich ein Schatten bin?" Zwei Augenpaare, ein grünes und ein blaues, sahen die Magd erstaunt an. „Du lebst hier, du wohnst hier, du arbeitest hier?" Liv zuckte mit den Schultern. Sie stand auf, ging zum Kessel und füllte sich eine zweite Schüssel mit Suppe. „Schon, aber das habe ich nicht immer getan. Ich bin vor mindestens vierzehn Sonnen, oder eher Schatten, hierhergezogen." „Warum hast du denn dein Leben im Sonnenreich aufgegeben? Du hattest schließlich eine gute Anstellung am Königshofe!" „Ich hatte meine Gründe." „Nun, das erklärt deine Gastfreundschaft und deine Hilfsbereitschaft", meinte Codien. „Nur weil in Sol das Gerücht kursiert, alle Schatten seien emotionslose Monster, die zu Liebe und Freude nicht fähig sind, muss es nicht immer stimmen. Es gibt auch Schatten mit diesen positiven Eigenschaften, aber sie sind zugegebenermaßen ziemlich selten hier anzutreffen", korrigierte ihn die Magd. „Vieles, was man mir von klein auf über das Schattenreich beigebracht hatte, die vielen Märchen und Geschichten, die man mir erzählte, um mir das Volk auf der anderen Seite des Himmelreiches zu verderben, war nicht richtig. Sowie ich auch weiß, dass viele Märchen, die man sich hier erzählt, nicht stimmen. Ich hasse es, wenn Schatten abfällig über mein Volk reden, allerdings hasse ich es ebenso, wenn es andersherum ist." „Aber sie geben sich auch nicht wirklich Mühe, uns von ihren guten Seiten zu überzeugen", entgegnete Codien. „Müssen sie sich Mühe geben? Oder ist es doch eher unsere Aufgabe, ihnen eine Chance zu geben?" Liv setzte sich zurück zu den Gauklern. „Tja, wir wollten ihnen eine Chance geben. Nur vor kurzem, oben im Palast", antwortete Codien schnippisch. „Ihr habt euch auch nicht gerade den besten Tag herausgesucht. Der Todestag des Königs?" „Du bist also auch der Meinung, dass wir einen zweiten Versuch starten sollten?", fragte Levi mit weit aufgerissenen Augen. „Ich schätze dich so ein, Leviathan, dass du gerne über die Strenge schlägst und dein Glück überstrapazierst. Nur weil es einmal gut gegangen ist, muss es nicht ein zweites Mal gutgehen." „Es muss nicht. Aber es könnte." Liv schaute zu Codien. „Ist er immer so..." „Stur? Ja, das ist er." Codien grinste. „Dein Eifer und dein Ehrgeiz in allen Ehren, Leviathan, aber die Wachen würden dich gewiss kein zweites Mal hereinlassen. Grenzt eh schon an ein Wunder, dass ihr einmal in den Palast gelangt seid." „Das befürchte ich auch." Levi sah auf den Boden seiner Schüssel, die er inzwischen schon komplett leer geschlürft hatte. „Aber wer sagt denn, dass sie mich wiederkennen?" „Du möchtest dich verkleiden?" „Exakt!" „Und womit?" Codien sah sich in der Hütte um. „Fellen und Decken?" „Ich könnte auch versuchen mit irgendwie hereinzuschmuggeln. Als Jäger oder so etwas." Liv schüttelte den Kopf. „Junge, du glaubst doch nicht wirklich dass das funktioniert! Und selbst wenn es dir gelingen sollte. Du musst erst einmal an die Königin herankommen. Wie willst du das machen, wenn dich die Wachen, die dich zu ihr bringen müssten, dich nicht sehen sollen?" „Nein." Sie stand auf, schob ihren Stuhl zurück und blickte aus dem Fenster. Obwohl es erst der frühe Nachmittag war, hatte sich der Himmel draußen schon verdunkelt. Dicke, graue Wolken zogen über die Häuser Atras hinweg. „Es gäbe eine Möglichkeit, dich unentdeckt in den Palast zur Königin zu bekommen." Die alte Magd senkte den Kopf und sah auf ihre dünnen Finger, mit denen sie an ihrer dunklen Schürze herumspielte. „Der Zugang zu den Kammern der Dienstmädchen ist beinahe immer gänzlich unbewacht. Von ihnen aus gelangt man über ein paar Umwege direkt ins Innere des Palastes und so auch zu den Gemächern der Majestät." „Das wäre großartig- aber dies ist doch eher für dich riskant, Liv. Wenn du einem Gaukler unerlaubt in den Palast verhilfst..." „Ich habe mich schon entschieden." Die Magd drehte sich herum und ging auf den Tisch zu. Sie lächelte mild. „Wir Sonnen müssen doch zusammenhalten, nicht wahr?" Sie legte Levi die rechte, Codien die linke Hand auf die Schulter. „Ich bin froh, euch bei mir zu haben. Auch wenn ich das Gefühl habe, euch von so einigen tollkühnen Aktionen abhalten zu müssen. Aber es ist so schön, nicht mehr allein in diesem steinernen Haus sein zu müssen." „Natürlich werden wir mithelfen, so gut es geht", sagte Codien schnell, „wenn wir erst einmal die Genehmigung haben und auch Geld mit unserer Musik verdienen können, werden wir natürlich selbst für unsere Verpflegung aufkommen. Wir möchten deine Gastfreundlichkeit nicht unnötig überstrapazieren, Liv." „Es hat keine Eile." Sie schwieg kurz. Sie richtete ihren Blick wieder nach draußen, wie immer, wenn sie nachdenken musste. „Aber bitte. Versprecht mir, den Schatten eine Chance zu geben. Versucht sie kennenzulernen, so wie ich es getan habe. Erst dann könnt ihr wirklich über sie urteilen." Codien zog eine Augenbraue hoch und sah zu seinem Freund hinüber, der nur mit den Schultern zuckte. „Wir werden uns Mühe geben", antwortete er schließlich. „Gut." Liv wendete sich der Kochstelle zu und füllte den letzten Rest der Suppe in die Schüsseln. „Ruht euch besser noch aus. Und wir zwei", sie deutete auf Levi, „müssen morgen früh raus. Kurz nach Sonnenaufgang. Nur damit du Bescheid weißt, worauf du dich einlassen willst." Der Barde nickte. „Ich will einen letzten Versuch starten."
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Emotionen- Kampf der Himmelreiche
RomanceDie Himmelreiche sind gespalten durch Vorurteile. Im Sonnenreich werden die Schattenreichbewohner als gefühlskalte, grausame Monster gesehen; das komplette Gegenteil zu den heiteren, unbekümmerten Sonnenreichbewohnern. Und ausgerechnet in dieses Rei...