1 - drunken sailor

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Unser Hausflur schwankt aus einem unerfindlichen Grund. Ich komme mir vor wie auf einem Schiff. Hoffentlich ist es kein Piratenschiff, denke ich und klammere mich an das Holzgeländer. Stück für Stück ziehe ich mich die Stufen hoch, während sich unser ganzes Treppenhaus langsam aber sicher in einen Todesstrudel verwandelt.

Obwohl ein Piratenschiff eigentlich auch ganz geil sein könnte, überlege ich und lasse mich am Zwischenabsatz auf den Boden fallen. Mir ist schlecht. Können die Wellen, die den Boden hin und her schaukeln lassen, mich bitte an Land schwemmen?
Am besten auf eine Südseeinsel mit weißen Stränden, Palmen und hübschen Mädchen. Bei der Vorstellung an braungebrannte Südsee-Schönheiten mit langem, gewelltem Haar und knappen Blätterröcken ist mir direkt etwas weniger schlecht. Aber nur ein bisschen.

Und das reicht nicht aus, um meinen Würgereiz zurückzustellen. Weil ich in meiner liegenden, an einen Südseestrand angespülten Position nicht gut kotzen kann, setzte ich mich auf. Sofort wird mir wieder schwindelig und ich halte mich am Geländer fest.
Ich sollte am besten über die Reling ins Meer kotzen sonst lässt mich der Kapitän morgen das ganze Deck schrubben. Benommen ziehe ich mich an der Reling hoch. Dabei stelle ich fest, dass die Stäbe handbreite Abstände haben. Das muss doch unpraktisch sein, so kommt schließlich viel Wasser auf das Schiff. Ich beuge mich vor und kotze. Danach fühle ich mich irgendwie leichter, aber auch müder. 

Ich will auf die nächste Treppenstufe steigen, aber ich trete ins Nichts. Stattdessen verliere ich das Gleichgewicht und stürze vor die Treppe wie eine Robbe, die einen Bauchklatscher macht.
»Hiuk, hiuk«, versuche ich die Robbengeräusche nachzuahmen und finde mich dabei so witzig, dass ich laut lospruste.
Ich drehe mich wieder zur Treppe und ziehe mich die Stufen hoch. Dabei sieht alles seltsam verschwommen aus und manchmal verfehle ich die Stufen. Warum müssen sie auch immer nach hinten rutschten, wenn ich gerade nach ihnen greifen will?!

Nach einer schieren Ewigkeit komme ich im ersten Stock an. Erschöpft breche ich auf dem Boden zusammen. Ich komme mir so erledigt vor, wie wenn ich alle Treppen des Empirie State Buildings hoch gelaufen wäre und wahrscheinlich bin ich das auch. Ich schwöre, ich kann die Taxis unten auf den Straßen hupen hören und ihren Gestank bis hier oben riechen. Die Skyline von New York ist wirklich atemberaubend. Wenn nur diese beschissenen Kopfschmerzen nicht wären...
Mein Kopf dröhnt und wummert, es fühlt sich an, als wäre eine Baustelle in meinem Kopf. Der Presslufthammer bohrt sich gegen meine Schläfen und verzweifelt drücke ich meine Hände seitlich an meinen Kopf. 

Bin ich schon im zweiten Stock? Bitte, ja... Warum haben wir eigentlich keinen Fahrstuhl? Wir sollten einen Fahrstuhl einbauen, am besten in die Wohnungen rein. Dann könnten wir unten einsteigen und würden in unseren Wohnungen wieder aussteigen. Mann, das wär' geil!

Aus dem Nichts bekomme ich Lust zu singen und stimme lallend das einzige Seemannslied an, dass mir bekannt ist: »Whas will we do wis se drunken sailor, whas will we do wis se drunken sailor, whas will we do wis se drunken sailooor, örly in se mooorning!«

Plötzlich flammt die Flurbeleuchtung auf und die Dunkelheit weicht grellem Neonlicht.
Jammernd halte ich mir die Hand vor die Augen. Meine Gehirnzellen sterben schon von meinen Kopfschmerzen ab, da müssen nicht auch noch meine Sehnerven explodieren. Ich höre wie sich im Stockwerk über mir eine Tür öffnet und jemand die Treppen runterläuft.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an das helle Licht und ich starre gebannt auf die Treppe. Hab ich jetzt eine Erscheinung? Ich erwarte einen Typen im weißen Gewand mit einem Zepter in der einen und einer Schriftrolle in der anderen Hand. Die Schriftrolle würde er mit einer großen Geste öffnen und mir mit einer bedeutungsvollen Stimme den weisen und weltrettenden Inhalt vorlesen.   

Aber stattdessen kommt nur ein übermüdeter Phips die Treppe herunter getrottet. Ich glaube zumindest, dass es mein bester Freund ist, denn so genau kann ich ihn nicht erkennen. Alles ist ein bisschen verschwommen, aber ich sehe etwas längere hellblonde Haare und eine recht große Nase, Philipp. Für mich wäre es wohl sowieso am besten, wenn es Philipp wäre, denn die anderen Nachbarn sind selten begeistert, wenn ich im Vollsuff vor ihrer Wohnungstür liege. 

Ich glaube, Phips redet mit mir. Und er greift nach meinem Arm.
Durch das Rauschen in meinen Ohren höre ich ihn sagen: »Niklas? Hallo? Geht's dir gut? Soll ich dir nach oben helfen?«
Ich will ihm antworten und sagen, dass er mir natürlich nach oben helfen soll oder denkt er, ich will gerne die ganze Nacht hier liegen?
Aber ich kann nichts sagen. Meine Zunge fühlt sich an wie festbetoniert und mein Mund ist durch diesen Betonstaub ausgetrocknet.
Phips seufzt und ich spüre, wie er seine Arme unter meine Achseln schiebt, mich hochhebt und ziemlich schmerzhaft polternd die Treppen nach oben zieht. Obwohl, schleifen trifft es eher. Erschöpft schließe ich die Augen.

An unserer Wohnung angekommen, bekomme ich im Flur einen kurzen Wortwechsel mit, bevor Phips mich direkt ins erste Zimmer links zerrt, das Bad. Verwundert zwinge ich mich die Augen zu öffnen und erkenne graue Schieferfließen. Ich sitze in der Dusche, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Schwerfällig drehe ich meinen Kopf zur Seite und sehe Phips am Türrahmen lehnen. Direkt vor mir steht Rapha, den Duschkopf in der einen Hand, die andere Hand auf dem Wärmeregler über mir und ein hämischen Grinsen im Gesicht.

Ach du heilige Scheiße, ich ahne Schlimmes. Dabei will ich einfach nur in mein Bett, bitte Leute! Ich will aufstehen, Rapha den Mittelfinger zeigen und dann nur noch in mein Bett. Rapha sagt etwas, aber mir kommt es so vor, als würde ich nicht nur verschwommen sehen, sondern auch verschwommen hören. Ich antworte nicht, Rapha nimmt seine Hand vom Wärmeregler und scheuert mir eine. Wenigstens löst sich meine Zunge dadurch wieder und ich kann undeutlich »Lass misch in Ruhe« nuscheln. Rapha lacht nur und dreht den Wasserhahn auf. Geschlagen lasse ich meine Augen wieder zu fallen und lasse zu, dass Rapha mir wortwörtlich eine kalte Dusche verpasst.

Als ich bis auf die Knochen durchnässt bin und es mir schon so vorkommt, als wäre ich dreimal durch den verdammten Amazonasregenwald gelaufen, stoppt Rapha das Wasser. Philipp ist schon längst verschwunden, wahrscheinlich schlafen. Schöner bester Freund, nie da, wenn man ihn braucht. Er hätte mir ja mal helfen können.

Das kalte Wasser hat mich ein wenig wiederbelebt und ich versuche mich aufzurichten. An den nassen Fließen rutsche ich ab, aber bevor ich mit dem Kopf hinknallen und mir eine Platzwunde holen kann, packt Rapha mich. Keine Ahnung wie der Franzose das mit seinem schlaksigen Körperbau hinbekommt, aber er wirft mich über die Schulter, wie ein Müller es mit dem Mehlsack macht- zugegebenermaßen fühle ich mich auch ziemlich wie ein Mehlsack. Vor Erschöpfung fällt es mir schwer, meine Augen offen zu halten und bei Bewusstsein zu bleiben.

Ich bemerke nur noch, wie ich in meine weiche Decke falle, dann dämmere ich endgültig weg. 

positive, reckless & late [very, very slow updates]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt