In dieser provinzialen Kleinstadt am Rande der Staatsgrenzen bin ich gezwungen mein warmes
Abteil zu verlassen, das ich mir nur mit einer Mutter geteilt habe. Ich weiß, dass sie eine Mutter ist, weil sie eine dieser Taschen mit sich trägt in denen Mütter normalerweise Windeln und Fläschchen und Feuchttücher transportieren. Wahrscheinlich ist ihr Kind mittlerweile zu groß um noch Windeln und Fläschchen und Feuchttücher zu benutzen, aber aus Gründen der mütterlichen Sentimentalität hat sie diese Tasche behalten und reist nun damit quer durchs Land - vielleicht auf dem Weg zu dem Menschlein weswegen sie sich diese Tasche einst angeschafft hat. Mit einem freundlichen, aber noch immer distanziertem Nicken verabschiede ich mich von meiner Abteilgenossin.
Als ich aus dem Zug aussteigen, reibe ich mir müde über die Augen. Seit Stunden schon bin ich unterwegs und mir stehen noch weitere, unendlich lange Stunden bevor. Außer mir steigen ansonsten nur fünf weitere Personen aus, drei davon begeben sich zielstrebig zum Ausgang. Sie sind eindeutig Bürger dieses Provinznests.
Man könnte meinen, ich mag keine Provinznester, weil ich sie Provinznester nenne und die damit einhergehende Assoziation nicht unbedingt eine Positive ist. Tatsächlich entstamme ich keinem Provinznest, habe aber meine halbe Kindheit in einem verbracht und da diese Sommer, die glücklichsten meines Lebens waren, mag ich Provinznester. Sie vermitteln einem das Gefühl von Heimeligkeit auch wenn man gar nicht heimisch ist. Hier im Nirgendwo kann die Zeit, ja sogar die ganze Welt stehen bleiben und es würde nicht auffallen. Provinznester sind ein eigener kleiner Kosmos, zufällig inmitten eines einzigen Planeten.
Mein Gepäck - bestehend aus einem 25 Kilogramm schweren Koffer, einem sieben Kilo umfassenden Koffer, den man auf den Größeren schnallen kann und einem handlichen Rucksack - schiebe ich aufeinander gestapelt neben mir her.
Ich muss zum Gleis sieben. Es wundert mich, dass es in dieser Kleinstadt mitten im Nirgendwo sieben Gleise gibt.
Ich passiere die große Bahnhofshalle. Es gibt drei Schalter, wovon nur einer mit einer jungen Blondine, die ihrem Lippenstift mehr Priorität einräumt als ihrem Job, besetzt ist. Ein geschlossener Schnellimbiss befindet sich ihr gegenüber und daneben ein Kiosk. Außerdem befindet sich nahe des Ausgangs, den ich links liegen lasse, eine Tür, die zu einer Bar führt. Wahrscheinlich die einzige Bar in dem Provinznest.
Mich trennen nur noch wenige Meter von Gleis sieben als ich von einer Schranke aufgehalten werde. Ein Mann, mittleren Alters, im graubraunen Anzug und Anstecker der Bahnhofsgesellschaft versperrt mir den Weg. Ich zücke verwirrt meine Fahrkarte. Mit starkem Dialekt gibt mir das hagere Abbild eines Mannes zu verstehen: "Alle Passagiere, die den Zug mit der Fahrtnummer B-17Z nehmen, müssen ihr Gepäck wiegen lassen." Ich glaube mich verhört zu haben. Es könnte am Dialekt liegen, beruhige ich mich und hake sogleich nach. Diesmal verleiht der Mann seiner Aussage Nachdruck indem er mit seiner Hand Richtung Boden gestikuliert. Dort liegt ein kleines handliches Gerät, das ich selbst Zuhause habe um mich für Flüge vorzubereiten. Eine Kofferwaage.
Völlig ernst sieht mich der Kollege an.
Ich habe schon vieles erlebt - streikende Züge, ausgefallene Züge, überfüllte Züge und auch einmal einen Leichentransportzug; zugegeben in diesen habe ich mich zwecks schnell Transport eingeschmuggelt - aber noch nie einen Zug in dem das Gepäck gewogen werden musste.
"Was soll das denn bitte für ein Affentanz sein?", frage ich amüsiert. Noch amüsiert, muss man betonen. "Keen Affentanz", erwidert der Mann und greift nach der Kofferwaage. Ich bin gezwungen ihm mein Gepäck auszuliefern.
Während das Handgepäck schnell und mit ausdrucksloser Miene gewogen wird, läuft sein Gesicht karminrot an als er mit beiden Händen, die nur an dünnen Ärmchen hängen, versucht den großen Koffer anzuheben.
Diese Absurdität wird nur noch der folgenden Nachricht übertroffen: "Is zu schwer." "Wie bitte?" "Der Koffer is zu schwer.", wiederholt er. Stöhend und Kopf schüttelnd erwidere ich: "Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!" Die ausdruckslose Miene wandelt sich in ein diabolisches Grinsen, welches wiederum zu einem mitleidigigen Blick wird. Die
Absurdität dieser Situation ist unfassbar. "Und jetzt?", will ich wissen. "Mit so viel Jewicht können Se jedenfalls nich mitfahre.", wird mir ungeduldig erklärt. "Aber ich habe ein Ticket für diesen Zug!", entgegne ich wütend. "Und ick eene Kofferwaage. So weit war'n ma schon", erwidert er schulterzuckend. "Ich muss diesen Zug erwischen!" "Ick muss meenen Job erledijen." Ich stöhne laut auf. Wir drehen uns im Kreis.
Die Frau mit der ehemaligen Wickeltasche läuft an mir vorbei. Sie sieht nicht irritiert aus als ihre Tasche gewogen wird. Wartet geduldig und wird durchgelassen. Ich könnte mir die Haare raufen! "Der nächste Zug ist ohne Kofferwaagenkontrolle", schlägt mir der Kerl entgegenkommend vor. Es beginnt zu dämmern und ich weiß von der Anzeigetafel, dass der nächste Zug erst morgen früh kommt. Natürlich könnte ich mich in die Bahnhofsbar setzen. Mich volllaufen lassen, durch das Provinznest wandern und in Sentimentalität ertrinken, nur um zu erkennen, dass ich gar keinen Urlaub brauche, sondern nur einen anderen Job oder gleich ein ganz neues Leben. Aber das habe ich hinter mir. Ich will mein Leben nicht ändern, das ist mir zu viel Aufwand. Was mir allerdings nicht zu viel Aufwand ist, den Kontrolleur zur Seite zu schubsen. Er hat diesen Anflug von Aggressivität nicht kommen gesehen und taumelt. Schnell schiebe ich mein Gepäck und dann mich selbst unter der Schranke hindurch. Der Kontrolleur fängt sich und beginnt zu toben. Ich renne zum Zug. Er mir hinterher. Er hinkt und ist deutlich langsamer als ich. "Sie verdammter Kofferwaagenfetischist! Mir versauen Sie nicht meinen Urlaub!", brülle ich und schaffe es durch eine offene Waggontür zu schlüpfen. Drinnen erwartet mich die Mutter und sieht mich mütterlich tadelnd an, sagt aber nichts. Ich habe in meinem Leben schon genug mit Kofferwaagenfetischisten zu tun gehabt. Keiner von ihnen war wirklich ein Kofferwaagenfetischist aber sie alle wollten mir mein Leben schwer machen. Entweder damit ich einknicke und brav an meinen Arbeitsplatz zurückkehre oder dass ich einknicke und mein Leben revolutioniere. Ich bin beides satt.
Der Kontrolleur wagt es noch nicht einmal in den Zug zu kommen. Er kehrt schlurfend zu seiner Schranke zurück und als der Zug langsam ins Rollen kommt, begegnen sich unsere Blicke. Er schüttelt mit dem Kopf. Ich schüttele ebenfalls mit dem Kopf. Dann hieve ich meinen Koffer auf die Ablage über mir. Wenn sie brechen sollte, soll mir der Koffer wenigstens das Genick brechen, aber meinen Willen soll ab heute nie wieder von einem Kofferwaagenfetischisten gebrochen werden.
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Gedankenkarussel
RandomDieses Gedankenkarussel nimmt Sie mit zu den Gedankengondeln der losen Sätze und Gedichte. [eine weitere Sammlung literarischer Ergüsse, die ich nicht zuordnen kann und will] [Behandelte Themen: Menschlichkeit, Umweltschutz, Veganismus, sexueller Mi...