Gedankengondel - der Mann der keiner war

3 1 0
                                    

Es war Sommer Fünfundachtzig. Nicht Neunundsechzig, sixty-nine wie in dem bekannten Lied von Bryan Adams, das seit seiner Veröffentlichung überall in Dauerschleife zu hören war.
Sommer 1985, vier Jahre vor dem Mauerfall. Ich war noch ein Knabe von elf Jahren, vorlaut, frech und vorallem besserwisserisch. Mein Vater behauptete das käme durch die Nachrichten. Auch wenn er insgeheim stolz war, dass ich dem Radio so viel Beachtung schenkte, sagte er dennoch immer: "Der Junge wird irgendwann noch auf die Idee kommen immer einen Taschenrechner in den Supermarkt zu nehmen, weil er so von der Technologie beinflusst wird."
Meine Mutter war da anderer Meinung. Sie feuerte meine Neugierde sogar noch an, in dem sie mir zu meinem 10. Geburtstag einen Walkman schenkte. Mein Vater ließ sich dazu herab mir ein paar Kasetten zu schenken auf denen neben Musik auch wissenschaftliche Abhandlungen aufgenommen worden waren.
Unseren Fernseher nutzte ich dagegen kaum, aber auch nur, weil meine ansonsten anti-autoritären Eltern so viel Zeit vor der Glotze verbrachten und mich nie Umschalten ließen. Meine Mutter liebte die Sendung mit Bob Ross oder "Eine schrecklich nette Familie". Mein Vater hingegen schaute am liebsten "Alf" und "Das A-Team".  Deshalb entwickelte ich eine nahezu närrische Verbindung zu unserem Radio und Nachrichten, die ich am nächsten Tag immer in der Schule erzählte. Der Austausch von 25 Westspionen gegen vier aus dem Osten, die auf der Glienicker Brücke in Berlin die Seiten wechselten, war wochenlang mein Thema Nummer Eins gewesen.
Meine Lehrerin schlug irgendwann vor, ich sollte eines Tages Journalist werden, aber ich mochte mir nichts von einer Frau, die ihre Haare wie ein Vogelnest toupierte, sagen lassen. Sie wollte mich deshalb sogar in ein Sommercamp schicken, aber ich schaffte es meine Eltern zu überzeugen, dass ich diesen Sommer Zuhause bleiben wollte. All meine Freunde waren im Urlaub und so verbrachte ich die meiste Zeit damit mit meinem Walkman durch die Nachbarschaft zu spazieren. Dort gab es einen kleinen Park in dem die Eichhörnchen ganz zahm waren, sodass ich sie manchmal mit Nüssen aus der Speisekammer fütterte.
Ich saß auf der Grasfläche zwischen drei Eichen. Mein Walkman lag neben mir und die Kasette war pausiert. Von irgendwoher klang mal wieder leise "Summer of 69" als ein Hund auf mich zu lief. Ich regte mich nicht, während der Mischling mich beschnupperte. Dann ertönte ein lautes: "Rudi!" Der Mischling hob seinen Kopf, besah mich noch einmal und lief dann in die Richtung aus der der Ruf gekommen war. Eine Person in Frauenkleidern kam auf mich zu. "Tut mir leid, Rudi lernt gerne neue Freunde kennen", sagte die Person und ich runzelte die Stirn. Die Stimme war tief und als die Person vor mir hielt, sah ich, dass es ein Mann war. Ein Mann in Frauenkleidung. Ich besah ihn skeptisch. Er hatte schulterlanges Haar und seine Lippen glitzerten mehr als die meiner Mutter. Weil ich nichts sagte und den Mann anstarrte, hob er die Hand als wollte er sich verabschieden. Ehe ich darüber nachdenken konnte, verließen folgende Worte meinen Mund: "Wieso tragen Sie Frauenkleidung?" Der Mann sah mich überrascht an, hatte er wohl mit keiner Reaktion mehr von mir gerechnet. Rudi schnüffelte an meinem Walkman und der Mann raffte seinen langen Rock um sich neben Rudi zu knien. "Ich mag die Kleidung, sie ist bequem", antwortete der Mann und begann Rudi hinterm Ohr zu kraulen. "Aber als Mann kann man keine Röcke tragen!", entgegnete ich vehement. "Hast du schon von den Schotten gehört?", fragte er mich. Sofort verschränkte ich die Arme vor der Brust: "Das sind auch keine Röcke, das nennt man Kilt." Der Mann lachte: "Du bist ein schlaues Kind!" Ich funkelte ihn an. Mir gefiel es nicht, dass er mich behandelte wie einen dummen Jungen. "Also habe ich doch Recht!", entgegnete ich selbstsicher. Der Mann schüttelte den Kopf: "Hast du nicht." "Hab ich wohl!" "Wieso trage ich dann wohl Frauenkleider?", wollte er von mir wissen. Darauf konnte ich keine Antwort geben. Ich hasste es wenn ich etwas nicht wusste und von einem Erwachsenen belehrt wurde. "Es gibt Männer, die tragen gerne Röcke und Makeup und-" "Und Frauen küssen Frauen, das weiß ich alles!", unterbrach ich ihn und nahm meinen Walkman. Ich hatte genug von diesem merkwürdigen Kerl, der mein Weltbild durcheinander brachte. Natürlich wusste ich, dass es Homosexuelle Paare gab und wahrscheinlich konnten Männer dann auch Röcke tragen. Damals war ich der Meinung, dass man lieben konnte, wen man wollte, aber nicht anziehen was man wollte. Diese Meinung hatte ich natürlich nur von meinem Vater übernommen, der diesen Satz mal zu meiner Mutter gesagt hatte, als sie sich stritten. Als ich dann aber in das Wohnzimmer kam, vertagten sie das Streitgespräch. "Man kann lieben wen man will, aber anziehen - wo kommen wir denn dahin wenn im Militär plötzlich alle Röcke tragen würden?", sagte ich und stand auf. "Und was ist, wenn ich dir sage, dass ich gar kein Mann bin?"
Das war der Moment in dem ich zögerte und mich nach einigen Sekunden des Überlegens wieder hinsetzte. Rudi legte mir seine Schnauze in den Schoß, so als wollte er sagen, dass ich bleiben sollte. Doch das brauchte er gar nicht, ich blieb freiwillig. Ich blieb bis die Sonne unterging und ich eigentlich schon längst hätte Zuhause sein müssen. Ich blieb und hörte auf ein überhebliches, besserwisserisches Kind zu sein. Ich blieb und hörte endlich zu.
In diesem Sommer 1985 lernte ich Martha kennen, die als Matthias geboren wurde und heute besser bekannt ist als "Mama Martha" und jeden Donnerstagabend über den Bildschirm hüpft wenn es wieder heißt: "Mama Martha machts möglich".

GedankenkarusselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt