18 - Löwe Leo und Zebra Zoe

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„Vielleicht sollte ich auch einfach Nonne werden", sagte ich zu Paula, die der ganzen Geschichte gebannt zugehört hatte. „Dann muss ich mich mit diesem ganzen Männerkram gar nicht mehr auseinandersetzen. Vielleicht ist das auch der wahre Grund, warum Theo nur Gott liebt."

„Ach Helvi, es tut mir so leid!", gab Paula mitleidig von sich.

„Tja, man sollte sich halt nicht mit Gott anlegen."

Ich sagte es locker, doch in Wirklichkeit saß der Schmerz noch sehr tief. 

Trotz warmer Temperaturen draußen trug ich einen langärmligen Pulli um meine blauen Flecke zu verstecken.

„Theo ist einfach ein Arschloch!"

„Ja, ich würde ihn am liebsten nie wiedersehen, aber rate mal, wer heute wieder gesund ist und am Nachmittag eine Vorleserunde gibt."

Onkel Gert hatte es mir gesagt und ich hatte es kaum glauben können. 

„Oh nein! Wirklich?"

„Oh doch! Ich kann es kaum erwarten hier weg zu sein!"

Paula zog ihre Mundwinkel nach unten.

„Ich werde dich vermissen!", sagte sie sofort.

„Ich dich auch, aber du kommst mich ja besuchen! Oder nicht?"

„Doch natürlich!"

Nach unserer Mittagspause kam Theo in den Buchladen hineinspaziert.

Als unsere Blicke sich trafen, sah ich sofort weg.

„Weißt du was? Ich habe eine Idee", ließ ich Paula wissen.

Spontane Ideen waren ja manchmal die besten.

„Was hast du vor?", fragte sie und schien nichts Gutes zu ahnen.

„Warte es ab!", sagte ich entschlossen und lief zu der Ecke, in der die Kinder schon auf Theo warteten.

„Ich lese heute vor!", verkündete ich der erwartungsvollen Meute.

Die Kinder wirkte deutlich enttäuscht und Theo sehr verdutzt. Alle starrten ich an, doch ich ließ mich nicht beirren. 

Ich schnappte mir wahllos ein Buch aus dem Regal. Ich würde eh nicht vorlesen, was dort drinnen stand. Bilder zum Anschauen hatte ich heute auch nicht zu bieten.

Ehe mich irgend jemand aufhalten konnte, begann ich zu erzählen. 

„Es war einmal ein starker Löwe", fing ich an und ignorierte jegliche Proteste von meinen Zuhörern. „Er hatte goldenes Fell und eine Mähne so weich wie Seide. Doch was noch viel wichtiger war: Er hatte ein ganz sanftes Gemüt und ein gutes Herz. Er tat keiner Fliege etwas zu Leide und versuchte immer allen zu helfen. Sein Name Leo." Ich machte eine Pause, atmete tief ein und einmal aus und fuhr dann fort. „Doch Leo hatte ein Geheimnis. Er war von seinen Eltern nicht geliebt worden. Er war sehr oft alleine gewesen, ohne jemanden zu haben, der sich um ihn kümmerte. Aus diesem Grund hatte er nie gelernt geliebt zu werden oder selbst zu lieben. Auch wenn Leo immer allen anderen in der weiten Savanne half, so war er selbst doch immer alleine."

Ich sah kurz in die Runde und war erstaunt, dass die Kinder noch zuhörten. Ich wagte es nicht zu Theo zu blicken, hoffte aber, dass er verstand, dass er Löwe Leo war. Ich fuhr fort.

„Eines Tages lernte er ein Zebra namens Zoe kennen. Es war nicht so stark und grazil wie er, doch er mochte sie von Anfang an. Er konnte mit ihr lachen und fühlte sich in ihrer Anwesenheit geborgen. Sie verbrachten zunächst sehr viel Zeit miteinander und sie kamen sich immer näher. Noch nie zuvor hatte er so etwas gespürt. Er wusste nicht, was Liebe ist. Es machte ihm so viel Angst, sodass er das Zebra nicht mehr sehen wollte."

Ein „Oh" ging durch die Runde.

Ja, Kinder. Das Leben konnte echt beschissen sein!
„Das Zebra Zoe war sehr traurig darüber, denn auch sie mochte Leo sehr gerne. Sie wusste, was Liebe ist und wollte ihm zeigen, wie toll es sich anfühlt zu lieben. Doch Leo traute sich nicht über seinen Schatten zu springen. Er rannte in die weite Savanne und ward nie wiedergesehen." Ich klappte das Buch in meiner Hand zu. „Ende der Geschichte!"

Mir war nicht nach Happy End zu Mute, denn in der Realität gab es das ja auch nicht.

„Was?", fragte ein Kind ungläubig. „Das ist das Ende? Aber sie müssen doch zusammenkommen!"

Nun wagte ich das erste Mal zu Theo zu schauen und ich hatte mit diesem Anblick nicht gerechnet. Er kämpfte mit den Tränen. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet und es war deutlich zu erkennen, wie glasig seine Augen waren.
Ich begann mich zu fragen, ob ihm nie bewusst gewesen war, warum er sich wirklich Gott zugewandt hatte. Hatte er das nie mit seiner Vergangenheit in Verbindung gebracht?

„Ja, Zoe kann ihm doch zeigen, wie es ist zu lieben!", rief ein Junge und wollte Löwe Leo offenbar unbedingt helfen.

„Ja, das könnte sie", antwortete ich. „Aber das möchte Leo nicht. Er hat einfach zu viel Angst."

„Aber warum waren seine Eltern überhaupt so gemein zu ihm? Warum haben sie ihn denn nicht geliebt?"

Das war eine Frage, die auch ich nicht beantworten konnte. Wie man Theo nicht lieben konnte, war mir ein absolutes Rätsel.

„Nicht alle Menschen sind nette Menschen und Leo hatte das Pech, dass seine Eltern sich nicht richtig um ihn kümmern konnten.", versuchte ich zu erklären.

„Aber das ist ja furchtbar. Sie haben ihm die Fähigkeit zu lieben weggenommen."

Dieser Satz hatte so sehr gesessen, sodass Theo einmal laut schluchzte und alle Kinder ihn plötzlich anstarrten, während mein Herz in die Hose rutschte. Das hatte ich nicht gewollt!
„Theo, was hast du denn?", erkundigte sich sofort ein kleines Mädchen.

Er tat mir auf einmal so unglaublich leid und ich war mir nicht sicher, ob meine Idee so gut gewesen war, wie ich zunächst gehofft hatte.

„Ich habe nur etwas im Auge", log er.

Doch so leicht ließ sich das Mädchen nicht täuschen.
„Das stimmt gar nicht. Das sieht anders aus. Du weinst richtig!"

Er presste ertappt seine Lippen zusammen. Er kämpfte um seine Fassung.

„Es ist nur so, dass die Geschichte ziemlich traurig ist", gestand er nun.

„Ja", stimmte das Mädchen zu. „Ich wünschte, man könnte Leo helfen und ihm sagen, dass er keine Angst haben muss. Liebe ist ja etwas Gutes."

Es war als würde mir ein kalter Schauer über den Rücken laufen. Ich bekam am ganzen Körper Gänsehaut, denn ich spürte, wie Theo gerade unter seiner Selbsterkenntnis litt.

„Ja, Liebe ist etwas Gutes", sagte Theo schließlich und sah zu mir.

Dieser verletzte Blick war so hart zu ertragen.

Ich wusste nicht so recht, wie ich seinen Satz und seinen Blick zu interpretieren hatte.
„Ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal ein bisschen frische Luft", sagte er schließlich und erhob sich von dem Ministuhl, der eigentlich für Kindergartenkinder gemacht war und schlurfte wie ein Häufchen Elend nach draußen.

TheoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt