Fremde Heimat

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Die Tage auf dem Meer vergingen für Amelia wie in einem Nebel. Lange hatte sie geweint und ihren Sohn an sich gepresst. Er hatte es nicht verdient zu sterben, er hatte doch nicht einmal das Licht dieser Welt erblickt und schon war er dem Leben entrissen worden.

Amelia wusste nicht, ob die Trauer um den Tod ihres Kindes oder die Wut auf den Prinzen schuld an dem nicht enden wollenden Tränenfluss hatte. Sie hatte bemerkt, dass der Wikinger, der ihr das Leben gerettet hatte, sich direkt nachdem die Wikingerfrau sie verlassen hatte, neben ihr Platz genommen hatte und ihr still Beistand leistete.

Seine Anwesenheit beruhigte Amelia und sie fühlte sich in seiner Nähe sicher. Er war es auch, der ihr dabei half, ihr totes Baby ehrenvoll zu Bestatten. Er baute ihr eine Art kleines Schiff, in das sie den Körper des Säuglings legen konnte. Dann verschloss er ihn und gemeinsam ließen sie ihn ins Wasser. Unter normalen Umständen, hätte Amelia ihn begraben, doch dies war auf dem weiten Meer nicht möglich. Außerdem wollte sie nicht, dass ihr Sohn zu stinken begann und anfing zu faulen.

„Ivar." Riss eine angenehme Stimme Amelia aus ihren Gedanken, als sie dem immer kleiner werdenden Schiffsgrab hinterher sah.

Amelia wandte sich zu dem Wikingermann um und starrte ihn schweigend an.

„Ivar." Wiederholte er sich und deute mit seinem Finger auf seine Brust.

Amelia verstand worauf der junge Mann hinaus wollte. Anscheinend hieß er Ivar und wollte ihr dies verständlich vermitteln.

„Amelia." Lächelte sie Ivar schüchtern an und deute auf sich selbst.

Ivar erwiderte ihr Lächeln und setzte sich auf den Boden. Amelia tat es ihm gleich und ließ sich schwerfällig neben ihm nieder. Sie litt immer noch unter Bauchschmerzen und ihr Körper wurde ebenso noch von grünen und blauen Flecken geziert, die ihr die Tritte und Schläge des Prinzen zugefügt haben.

Ivar reichte ihr eine kleine Tonschale mit einem Gemisch aus Weizen und Wasser. Seit Tagen nahm Amelia nichts anderes zu sich und sie wünschte sich wieder Abwechslung auf dem Speiseplan. Doch ihr war bewusst, dass auch die Wikinger an Board nichts anderes zu Essen bekamen. Selbst der König speiste wie jeder seiner Krieger.

Verwirrt hatte Amelia dies zu Kenntnis genommen, dass der Wikingerkönig hier keinerlei Sonderbehandlung bekam, auch seine Söhne wurden behandelt wie jeder andere an Deck des Langbootes.

Wer die Söhne des Königs waren, hatte Amelia sehr schnell herausgefunden, denn der große, blonde Mann und Ivar waren oft bei König Eirik. Ivar hatte begonnen, ihr die Namen einiger Wikinger zu erklären. So konnte Amelia jetzt Ivar, Bjorn, Runa und den König ansprechen. Auch wenn ihr dann auch schon die Wörter ausgingen. Doch auch dort zeigte Ivar einen unermüdlichen Einsatz, er zeigte ihr verschiedene Gegenstände auf dem Boot und nannte ihr dazu einige Wörter.

Mit jedem Tag an Deck der Wikinger konnte sie ein paar wenige Wörter mehr. Oftmals wanderten ihre Gedanken zurück nach England, was Charlotte und Olivia wohl machten? Ob sie sie vermissten? Was ihnen wohl erzählt wurde über Amelias verschwinden. Diese Gedanken beschäftigten sie sehr oft, doch sie hegte keinerlei Groll gegen die Wikinger oder Ivar, denn ohne Ivar wäre sie wohl nicht mehr am Leben.

Die wenigen Tage nach dem Verlust ihres Kindes, hatte sie vor den Wikingern schon Angst. Immerhin waren sie Barbaren und überfielen regelmäßig die Küste Englands. Viele Frauen und Männer waren ihren Angriffen zum Opfer gefallen. Aber diese Furcht legte sich schnell, als sie bemerkte, dass keiner der Männer ihr Schaden zufügen wollte. Im Gegenteil, jeder war freundlich zu ihr und besonders Ivar bemühte sich, sie aufzuheitern und ihr die Sprache der Wikinger beizubringen.

Wochen verbrachte Amelia an Deck des Langbootes, bis sie aus ihren Tagträumen gerissen wurde.

„Land in Sicht!" wurde über das ganze Deck gebrüllt.

Im Auge des Wikingers - Ivar EiriksonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt