Ich habe meinen Blick auf das Buch in meiner Hand gerichtet und gähne. Obwohl ich Harry Potter schon gefühlt tausend Mal gelesen hatte, nehmen mich Joanne K. Rowlings Worte immer wieder in Beschlag. Die Art, wie sie Personen und Situationen beschreibt ist einzigartig. Doch in den letzten Wochen kann ich mich nicht mehr wirklich auf die Abenteuer eines jungen Zauberers konzentrieren. Die ganze Zeit verfolgen mich die Erinnerungen an Wes. Doch nicht nur die: Die neugierigen Blicke meiner Mitschüler sind unerträglich. Sie scheinen mir überall hin zu folgen. Ihre Gesichter fragen die tausend Fragen, die ihren Mund nie verlassen werden. „War es deine Schuld? Wie sah es aus? Bist du froh, dass er tot ist?" Jedes Mal die gleichen Blicke. Magnus hat sich die letzten Tage nicht wirklich blicken lassen. Es gehen Gerüchte umher, dass er sich zusammen mit seinem großen Bruder nach Frankreich abgesetzt hat.
Dies ist wieder einer dieser Momente, in denen ich gläubig werde. Tiefgläubig. Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich zucke zusammen. „Hey hey hey. Ich bins nur." Als ich aufsehe, blicke ich in Ambers fröhlich leuchtende Augen. Erleichtert atme ich auf und ringe mir ein Lächeln ab, um meine Sitznachbarin mit den Worten wie jeden Tag zu begrüßen. Auf meine Frage, ob sie gut geschlafen habe, nickt Amber fröhlich. Sie lässt sich neben mich fallen und streift die bunt geringelten Handschuhe ab. Ich vertiefe mich wieder in mein Buch, oder versuche dies zu tun, als meine Nebenfrau sich räuspert. „Du Anthony ich hab mal ein Fraage." Bei diesem Satz zieht sie das „A" in eine unglaubliche Länge, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen, die ich ihr dann auch gebe. Ich reiße meinen Blick von den Zeilen los und richte ihn auf sie. Das Energiebündel nimmt dies als Einladung, ihre Frage zu stellen. „Mir wurde gesagt du warst nicht immer so..." Kurz sucht Amber nach den richtigen Worten, um dann fort zu fahren. „So..." Da ich mir dieses Gestammel nicht länger anhören will, helfe ich ihr bereitwillig. Ich weiß, mit welchen Worten über mich geredet wird. Gerade gestern belauschte ich unfreiwillig ein Gespräch zwischen meiner Mutter und ihrer besten Freundin. „Antisozial? Zurückgezogen?" Amber nickt dankend. Ich kann mir bereits denken, auf was ihre Frage hinausläuft. Auf Wes. Sie hat von seinem Tod gehört. Ich ignoriere das aufkommende, mulmige Gefühl in meinem Bauch und blinzle kurz, um die aufkommenden Tränen aus meinen Augen zurück zu halten. Dies entgeht meinem Gegenüber nicht und Amber nickt verständnisvoll. „Es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen. Es ist nur... ich bin so neugierig. Du bist nach außen hin einfach ein bisschen kalt. Das ist alles." Sie überspielt ihre Nervosität geschickt mit einem Lachen um dann in ihrer Tasche zu kramen. Ich richte meinen Blick erneut auf das Buch in meinen Händen und warte darauf, dass der Lehrer den Raum betritt und den Unterricht beginnt. Die Stunde verläuft ruhig und ohne Zwischenfälle. Die meisten Lehrpersonen haben nach meiner Rückkehr an meiner Schule aufgehört, mich aufzurufen. Es ist so, als hätten sie mich komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht und würden mich komplett ignorieren. Vielleicht denken sie, dass es mich schonen würde, wenn sie mich nicht mit ihren Fächern quälen.
Ich lasse mich vom Unterricht berieseln und drifte langsam in die wohl bekannte Leere, die mich kurz darauf komplett erfüllt und einlullt. Ich spüre, wie mir langsam die Augen zufallen und ich in einen traumlosen Schlaf falle.Ich schrecke hoch, als die Schulklingel ertönt und beeile mich, die Hausaufgabe abzuschreiben, um dann mein Zeug so schnell wie möglich zusammen zu raffen und die Klasse zu verlassen. Der Gang ist wie immer brechend voll und es fällt mir schwer, mich durch die Menschen Menge zu schieben. Auf dem Weg zu meinem Spind komme ich bei einem Plakat vorbei, das in großen, neonfarbenen Lettern den kommenden Winterball anpreist. Ich hasse solche Ereignisse. Jedes Jahr wieder ist es ein Wettbewerb darum, wer am besten gekleidet ist und die beste Begleitung anschleppt. Wer in welchem Auto vorfährt und wer es schafft, den stärksten Alkohol in den Raum zu schleppen, in dem ich sich die Menschen drängen und in ewig langen Schlangen anstellen um vor dem Green Screen für ein unterbelichtetes Erinnerungsfoto für 12 Dollar das Stück zu posieren.
Wesley liebte dieses Event. Er schaffte es jedes Jahr wieder, ohne mein Wissen zwei Karten zu erstehen und mich dann zu diesem bunten Treiben zu schleifen. Er würde stundenlang Anzüge anprobieren, um dann am Ende wieder in seinen alten, ausgewaschenen Jeans und einem weißen Hemd mit quietschgelben Floralmuster auf dem Ball zu erscheinen. Nach einigen Jahren Tortur, ein Date für den Ball zu ergattern, gab mein bester Freund es vollends auf und holte mich im alten Pickup seines Vaters ab, um mir zu erklären, dass ich „eh schon fast als Frau gelte". Einmal hatte es der schräge Vogel sogar fast geschafft, mich in ein Kleid zu zwängen und als Cousine dritten Grades auszugeben. Dieser Plan war allerdings gescheitert, als meine Mutter erfuhr, was Wesley mit ihrem Sohn- und sogar noch schlimmer: ihrem Kleid vorhatte, und dem ganzen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machte.
Der Gedanke an meine Mutter, wie sie Wesley mit hochrotem Kopf anschreit und dieser verlegen eine Entschuldigung stammelt treibt mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen. Ich schließe meinen Spind auf und ziehe schleunigst mein Sportgewand heraus, um den Kasten danach schnell zuzuknallen. Ich schleife mich zum Sportplatz und geselle mich zu den anderen Jungen aus meinem Jahrgang, die dort fröstelnd in ihren kurzen Hosen stehen.
Das Fach Sport zu hassen war eine Leidenschaft, die Wes und ich teilten. Wie viele Andere konnten wir beide dem Schweißgeruch und schreienden Sportlehrer nichts abgewinnen. Daran hat sich eigentlich nichts geändert. Das Wetter wurde schlechter und der Lehrer etwas schlecht gelaunter, wenn man den Gerüchten Glauben schenkt, hat ihn seine Frau verlassen. Auf den kurzen Pfiff des Sportlehrers stellen sich meine Leidensgenossen und ich in einer Reihe auf, um laut durchzuzählen.
Mal mehr mal weniger motiviert wird die Nummer, die einem am Anfang des Schuljahres zugeteilt wurde, gebrüllt und vom Coach mit einem Nicken auf sein Klemmbrett notiert. Als wir an der Nummer 16 ankommen, wird es still. Wesleys Nummer. Er hat sie immer motiviert geträllert, um sich dadurch eine bessere Note zu erschleichen. Als ob das jemals etwas gebracht hätte. Doch Wes ist nicht hier und steht nicht neben mir in der hässlichen, verwaschenen Sporthose mit dem Logo unsrer Schule auf dem Oberschenkel. Er lächelt mir nicht fröhlich zu, nachdem er seine Motivation ausdrückte und der Lehrer ihn maßregelte, dass diese Prozedur ernst zu nehmen wäre.
Ich spüre, wie sich der Klos, der immer in meinem Hals sitzt und nie zu verschwinden scheint, aufquillt und Tränen in mir aufsteigen lässt. Der dumpfe Schmerz, der seit Wesleys Sturz mein ständiger Begleiter ist und mitten in meiner Brust sitzt, schwillt an und lässt das dunkle Loch in mir wachsen. Wie schon so oft ist es, als würde mir jemand ein Messer mitten in den Bauch rammen, sich zu mir beugen und flüstern, dass er nie mehr kommt. Dass ich Wes nie wieder sehen werde. Dass ich meinen besten Freund verloren habe.
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Ich wäre nicht gesprungen.
JugendliteraturAnthony ist 17 Jahre alt, hat den besten Freund der Welt und ist durchaus glücklich mit seinem Leben. Zumindest war er das. Vor dem Absturz, der ihm im wahrsten Sinne des Wortes Wes geraubt hat. Jetzt muss sich Anthony jeden Tag alleine den Blicken...