Meine dritte Woche ohne Wes bricht an und ich fühle mich wie ein Junkie, dem seine Droge fehlt. Ich bin reizbar und übermüdet. Kaum versuche ich zu schlafen, reißt mich das Bild von Wesley, wie er tot am Boden liegt, den starren Blick in den Himmel gerichtet aus dem Schlaf. Ich trete gegen meinen Spind und bringe ihn somit dazu, sich zu öffnen. Müde gehe ich die Fächer von heute im Kopf durch und ziehe dann die entsprechenden Mappen aus dem Schließfach. Wie jeden Tag. Dann verschließe ich meinen Kasten und schlurfe zur ersten Stunde. Wie jeden Tag. Ich fühle mich wie eine leere Hülle, deren Geist schon längst seinen Körper verlassen hat. Ich lasse mich wie jeden Tag auf meinen Platz fallen und öffne mein MacBook. Wie jeden Tag begrüßt mich ein Bild von Wes und mir, wie wir als Kinder eine Sandburg bauten. Wie jeden Tag beeile ich mich, den Code einzugeben, um das Bild nicht zu lange ansehen zu müssen. Auch wenn der Anblick schlicht unerträglich ist, bringe ich es nicht über mein Herz, den Hintergrund zu ändern. Es kommt mir wie Verrat vor. Gähnend öffne ich die Mitschriften der letzten Stunden und lese mir den Stoff flüchtig durch. Die Klasse füllt sich langsam und leise Gespräche sind zu hören. Ich schrecke hoch, als jemand seinen Rucksack auf den Stuhl neben mir fallen lässt. Vor mir steht ein Mädchen. Ungefähr einen Kopf größer als ich. Kurzrasierte Haare, roter Lippenstift. Ein Piercing an der Lippe und riesige blaue Augen. Wenn ich noch Komplimente geben würde, könnte ich sagen, dass sie echt hübsch ist. Fragend sehe ich sie an. „Hi. Ich bin Amber." Lächelnd streckt sie mir die Hand hin. Ihren Arm ziert ein Tattoo. Ich ergreife die Hand aufgrund meiner Höflichkeit und der guten Erziehung meiner Eltern und schüttle sie. „Anthony Libyer." Sie lässt meine Hand los und fährt sich über den Kopf. „Öh... würde es dich stören, wenn ich mich zu dir geselle? Ich bin neu, wie man vielleicht merkt und möchte mir den Beitritt in eine Clique sparen." Ich antworte mit einem knappen Nicken und wende mich wieder meinem Rechner zu. Amber macht es sich neben mir gemütlich und beginnt, ihr Zeug auf den Tisch zu häufen. „Irgendwie sagt mir dein Name was... Ist dein Vater Arzt?" Ich schüttle verneinend den Kopf. „Anwalt. Gleich die Straße runter ist sein Büro." Ich habe keine Ahnung, warum ich ihr überhaupt antworte. Eigentlich würde ich Ruhe bevorzugen, doch Amber hat so etwas Interessantes an sich. Sie beginnt fröhlich über ihr Leben zu plaudern und führt dies auch fort, als Magnus die Klasse betritt. Anscheinend habe ich eines der ersten weiblichen Mädchen neben mir, die nicht sofort in den Bann dieser bodenlosen Augen fallen. Als ich gerade darüber nachdenke, eine Studie über dieses Verhalten zu beginnen, trifft mich ein stechender Blick von Magnus' Seite. Ach, stimmt ja. Der sitzt normalerweise neben mir. Tja. Der feine Herr scheint es wohl nicht gewohnt zu sein, dass jemand seinen Platz für sich beansprucht. Ich beginne Amber immer mehr zu mögen. Sie scheint den Blick mittlerweile auch bemerkt zu haben und schaut den Empfänger fragend an. Also mich. „Welche Laus ist denn dem ins Gesicht gesprungen?" Gute Frage. Welche Laus hatte denn bei dem nen Lauf? Ich muss unwillkürlich grinsen und zucke die Schultern. „Keine Ahnung. Aber es könnte sein, dass dieser Alpha Wolf gleich hierherkommt und darauf pocht, dass du sein markiertes Revier freigibst." Amber lässt ein melodisches Lachen hören und krempelt ihre imaginären Ärmel hoch. „Soll der nur kommen. Dann sehen wir, wer hier die längeren Reißzähne hat." Nun kann auch ich mir ein leises Lachen nicht mehr verkneifen. Wie vorausgesagt setzt sich Magnus in Bewegung und steuert direkt auf uns zu. Die anfängliche Siegessicherheit verschwindet so, als wäre ein Windstoß ins Klassenzimmer gefahren und hätte sie weggeweht. Mit jedem Schritt, den er tut, schwindet mein Selbstvertrauen und die Angst in mir steigt hoch. Das Bild von Wes, wie er auf dem Asphalt liegt, den Kopf in einer Blutlache schiebt sich wieder nach vorne. Am liebsten würde ich aufspringen und wegrennen. Weit, weit weg. Bolivien vielleicht. Ob Magnus schon mal etwas von Bolivien gehört hat. Ich denke nicht. Denn selbst ich, ein absolutes Ass in Geografie, lernte dieses wunderschöne Land erst über Wes kennen. Okay. Das war eine Lüge. Ich hasse Geografie. Genau wie Wesley es gehasst hat. Doch wenn ich an ein Land denke, das möglichst niemand kennt, kommt mir sofort Bolivien in den Kopf. Magnus baut sich vor dem Tisch auf. Gut. Das wars mit Bolivien. Ade grausame Welt. Ich lasse meinen Blick gesenkt und vermeide es, in diese bodenlosen, schwarzen Augen zu blicken. Sie erinnern mich daran, wie Wesley Magnus angeschmachtet hat. Wie er ihm verfallen war. Wie er wegen ihm starb. Allein er ist schuld daran. Ohne Magnus hätte ich Wesley noch neben mir. „Kann ich dir helfen?" Amber lächelt Magnus übertrieben höflich an. Dieser scheint wenig Lust darauf zu haben, dieses Lächeln zu erwidern. Der Angelächelte scheint es bevorzugen, mir einen stechenden Blick zuzuwerfen. Ich fühle mich so, als würde mich dieser Bick durchbohren. „Für gewöhnlich sitze ich hier." Tja. Für gewöhnlich. Doch für gewöhnlich sage ich ihm auch jedes Mal, dass er mich stört. Amber scheint mein Unwohl zu bemerken und zum ersten Mal seit Langem erhebt jemand seine Stimme für mich. Sie lächelt immer noch so süß, dass ich das Gefühl habe, man könnte sich an ihrem Lächeln festkleben. Mit einer Stimme, fast ebenso süß wie dieses Lächeln lässt sie einen Konter hören, der so schlagfertig ist, dass er fast von Wesley stammen könnte. „Für gewöhnlich bist du es anscheinend auch gewohnt, dass man dir Platz macht. Doch mein Kleiner: Glückwunsch. Es ist dein erstes Mal. So wie dir jeder nachgafft, bist du bestimmt noch Jungfrau, da du der Meinung bist, dass du einfach Jede haben kannst und es nicht schaffst, dich für eine zu entscheiden." Autsch. Der saß. Leider weiß ich zufällig, dass Magnus keine Jungfrau mehr ist. Dennoch scheint dieser Satz sein Ziel genau zu treffen, denn Magnus' Blick wird noch ein Stück stechender. Amber lächelt fröhlich um sich dann ihrem Buch zuzuwenden. Ich richte den Blick auch wieder auf das Display meines Laptops und beginne närrisch zu tippen. Plötzlich sind meine Notizen das wichtigste, das es in meiner kleinen, beschränkten Welt gibt. Als ich gerade damit anfangen will, mich zu wundern, warum Magnus, der Herr der Provokation so einen Schlag einfach hinnimmt, räuspert er sich, um wieder meine und Ambers Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich tue ihm den Gefallen und sehe hoch. Oh. Er sieht wirklich nicht begeistert aus. Auch Amber scheint dies bemerkt zu haben, denn ihr fällt das fröhliche Lächeln aus dem Gesicht. Gerade als Magnus Luft holt, um Amber durch seine Worte in einer Depression zu treiben, betritt die Lehrerin den Raum. Meine Stoßgebete Richtung Himmel wurden also erhört. Vielleicht macht es doch Sinn, das Christentum anzunehmen. Magnus schnalzt unzufrieden. „Nach der Stunde. Gang." Ach. Nein. Es macht definitiv keinen Sinn. Wie heißt es so schön? Aufgeschoben, nicht aufgehoben. Leise fluche ich und lasse mich von den Worten der Lehrerin berieseln.
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Ich wäre nicht gesprungen.
Teen FictionAnthony ist 17 Jahre alt, hat den besten Freund der Welt und ist durchaus glücklich mit seinem Leben. Zumindest war er das. Vor dem Absturz, der ihm im wahrsten Sinne des Wortes Wes geraubt hat. Jetzt muss sich Anthony jeden Tag alleine den Blicken...