Mia war eines dieser unauffälligen Mädchen, die sich auf die Uni konzentrierten und sich eher zurückhaltend verhielten. Sie war nicht so eine Partymaus, wie die anderen aus ihren Kursen. Wenn sie ganz ehrlich mit sich selbst war, dann war sie froh nur noch dieses eine Jahr fertig machen musste, dann hatte sie den Master in der Tasche.
Der Pub, in dem sie jeden Freitagabend arbeitete, war sehr beliebt unter ihren Mitstudenten. Es verging kaum ein Abend, an dem sie kein bekanntes Gesicht sah. Während Mia die Bar vorbereitete und die wenigen Kunden, die sich im Lokal befanden, bediente kam ihr Kollege Jan. Sie begrüßte ihn mit einer herzlichen Umarmung und machte sich weiter an die Vorbereitungen, während er in den Personalraum ging und seine Arbeitskleidung anzog.
Jan war schon Ende zwanzig und einer der wenigen Menschen, den sie ausstehen konnte. Er war zwar nicht so ruhig wie sie – um ehrlich zu sein wohl eher das komplette Gegenteil – aber er war nicht aufdringlich und merkte, wenn es ihr zu viel wurde. Er nahm Rücksicht und das war einer der Gründe, warum sie vor zwei Jahren in eine gemeinsame WG gezogen waren. Mia hatte vorher in einem Heim für Studenten gewohnt, wollte sich aber schon länger eine WG oder gar eine eigene Wohnung mieten. Jan hatte zufällig eine drei-Zimmer-Wohnung, die er eigentlich sogar kurz davor war zu kündigen, weil sie ihm zu groß war.
Eine halbe Stunde später sah der Pub schon ganz anders aus. Fast alle Tische waren besetzt und auch die Theke war schon voll. Jan und Mia waren ganz im Arbeitsfieber, als die „coole Clique" der Uni das Lokal betrat. Eigentlich war das Schwachsinn, da es keine Cliquen an ihrer Uni gab, aber dennoch sah jeder der Gruppe junger Männer nach, wenn sie durch die Gänge liefen. Ganz grundlos war das nicht, denn einer sah besser aus als der andere. Muskulös mit markanten Gesichtszügen. Der Traum aller Frauen.
„Guck mal, da kommt dein Verehrer", flüsterte Jan in ihr Ohr. Sie sah zu der Gruppe und musste sich ein Lächeln verkneifen. Jan sah sie wissend an.
Elias, der Mann, auf den sich Jan bezog, war einer ihrer Mitstudenten, mit dem sie letztes Jahr eine Präsentation halten musste. Sie hatten sich gut verstanden, mehr als gut sogar. Sie hatten einige Male etwas am Laufen, aber Mia hatte klargestellt, dass sie nichts Festes wollte. Nicht, weil er ihr nicht gefiel oder sie sich keine Bindung mit ihm vorstellen konnte – das genaue Gegenteil war der Fall – sie konnte einfach keine Ablenkung gebrauchen. Sie hatte noch ein Semester voller Arbeit vor sich. Die Uni war wichtiger als irgendwelche Liebesbeziehungen, der Ansicht war sie schon immer und wenn man ihr sagte sie solle der Liebe doch eine Chance geben beteuerte sie stets einfach nur rational zu sein.
So sehr sie sich auch bemühte nicht in die Richtung des Tisches zu sehen, an dem Elias saß, schien ihr Unterbewusstsein ihren Blick wohl absichtlich immer in die Richtung zu lenken. So sehr sie es auch unterdrücken wollte fühlte sie sich verdammt hingezogen zu ihm.
„Er kommt rüber", trällerte Jan und sie sah ihn nur genervt an. Er musste sie nicht über jeden von Elias Schritte benachrichtigen, ihr Unterbewusstsein leistete dabei schon hervorragende Arbeit. Seit er sich von seinem Sitzplatz erhoben hatte, hatte sie ihn schon – unauffällig – mit ihren Blicken verfolgt. Sie hatte aus mangelnder Konzentration sogar schon ein Glas umgekippt.
„Hallo." Der junge Mann mit den atemberaubenden grünen Augen und dem wunderschönen Lächeln lehnte sich locker an die Bar.
„Hi." Auch wenn er eine enorme Wirkung auf sie hatte, versuchte sie so gleichgültig wie möglich zu klingen. Sie wusste, dass es die beste Entscheidung war es zu beenden.
„Wie lief deine Physikprüfung gestern?", fragte er sie während sie weitere Drinks zubereitete. Mal abgesehen davon, dass sie bei der Arbeit war konnte sie noch nie viel mit Smalltalk anfangen. Natürlich konnten sie an der Bar keine tiefgründigen Gespräche führen, aber dann hätte er ja theoretisch überhaupt nicht herkommen müssen. Sie hatte jedenfalls weder darauf spekuliert noch gehofft.
„Ich bin gerade bei der Arbeit", antwortete sie stattdessen und sah im direkt in die Augen.
„Verstehe." Er sah gekränkt aus. Sie wusste, dass sie ihn verletzte, das tat sie nun schon seit Monaten, aber sie wollte ihm einfach keine falschen Hoffnungen machen. Das hatte er nicht verdient. Auch wenn sein Aussehen und seine Angewohnheiten darauf schließen lassen könnten, dass er arrogant und eingebildet war, war er das komplette Gegenteil davon. Er war ein lieber, bodenständiger Kerl, der an seiner Familie hing und alles für seine kleine Schwester aufgeben würde. Er war der, der mindestens drei Mal in der Woche seine senile Oma besuchen fuhr und ihr jedes Mal eine Kleinigkeit mitbrachte. Meistens waren es kleine alkoholische Pralinen, die ihr ansonsten von allen Seiten verboten wurden. Er war auch der, der seinem Vater jedes Wochenende half in der Garage an dem Oldtimer rumzubasteln und der, der seiner Mutter und Schwester immer das Mittagessen kochte. Elias hatte ein wunderbar gutes Herz und unter anderem auch aus dem Grund fühlte sie sich, als wäre sie auf lange Sicht auch niemals gut genug für ihn.
Jan kannte ihre Geschichte mit Elias und ihre Gefühle ihm gegenüber, aber alle Überredungskunst prallte an ihr ab. Er hatte schon aufgegeben, er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Wenn Mia sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnten keine zehn Pferde sie dazu bewegen etwas daran zu rütteln. Sie war die Inkarnation der Eigenschaft stur.
Lange nach Mitternacht war auch der letzte Gast endlich gegangen und Jan und Mia machten sich daran alles aufzuräumen und sauber zu machen. Nachdem auch das getan war verabschiedeten sie sich vom Chef und machten sich auf den Weg nach Hause. Sie wohnten zum Glück so nahe, dass sie zu Fuß gehen konnten.
„Kannst du vielleicht aufsperren, ich finde meinen Schlüssel nicht, wahrscheinlich habe ich ihn in der Arbeitshose vergessen." Mia lachte.
„Wie gut, dass man seinen Kopf nicht vergessen kann..." Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft stehen.
Nachdem sie aufgesperrt hatte machte sie sich direkt auf den Weg in ihr Zimmer, aus dem sie frische Unterwäsche und ein Schlafshirt holte, um gleich im Anschluss duschen zu gehen. Egal wie müde sie auch war, sie konnte sich nicht ins Bett legen ohne vorher geduscht zu haben, vor allem nach einem ganzen Abend Arbeit. Jan hatte sich noch eine Kleinigkeit zu Essen gemacht und würde nach ihr duschen, in dieser Hinsicht waren sich die beiden recht ähnlich.
„Gute Nacht, Jan", sagte sie als sie aus dem Bad kam und machte sich mit noch nassen Haaren auf den Weg in ihr Zimmer.
„Dir auch, meine Liebe. Eine ausgesprochen wunderschöne Nacht wünsche ich dir!", rief er ihr nach. Mia runzelte die Stirn aufgrund seiner komischen Wortwahl, doch schon wenige Momente später sollte sie verstehen warum.
„JAN!", schrie sie, als sie die Gestalt in ihrem Bett sah. Nicht irgendeine Gestalt, nein. Elias. Sie hörte ein herzhaftes Lachen aus der Küche, während sich der Körper auf ihrem Bett anfing zu bewegen. Elias öffnete die Augen und sah sie einfach nur an.
„Was machst du in meinem Bett?", fragte sie streng.
„Du trägst ja immer noch mein T-Shirt", stellte er erstaunt fest. Sie sah an sich herunter und tatsächlich hatte sie ausgerechnet seins ausgewählt. Zu ihrer Verteidigung musste man allerdings sagen, dass sie das Licht in ihrem Zimmer nicht angemacht und sozusagen blind nach einem T-Shirt geschnappt hatte. Erklärt natürlich trotzdem nicht, warum es nicht in den Tiefen ihres Schrankes versteckt war sondern ganz oben auf dem Stapel, wenn sie doch alles abgebrochen hatte, was jemals zwischen ihnen war. Elias hatte ihr damals gesagt, dass sie das T-Shirt behalten sollte, im schlimmsten Falle sollte sie es einfach in den Müll werfen. Ihrem Verhalten in den letzten Monaten nach zu urteilen war er auch stark davon ausgegangen. Umso überraschter war er jetzt. Hellwach saß er im Bett. „Du hast es nicht in den weggeschmissen." Mia setzte sich auf ihre Seite des Bettes und er fuhr sanft über den Stoff des T-Shirts, als könne er es immer noch nicht glauben und müsse sich erst davon überzeugen, dass sie es tatsächlich trug. Sein T-Shirt. Auch wenn er es nach außen nicht zeigte freute er sich innerlich wie ein kleines Kind.
Mia lächelte. Jan musste ihm alles erzählt haben, ansonsten wäre Elias jetzt nicht in ihrem Bett. Als Elias ihr wieder ins Gesicht blickte konnte er nicht anders als sie zu küssen. Sie erwiderte. Der Kuss schmeckte nach Rauch und etwas Rum. Es war aber nicht störend, es passte perfekt zu ihm. Sie setzte sich auf seinen Schoß und vertiefte den Kuss noch mehr. Sie musste sich viel zu lange zurückhalten, sie konnte nicht mehr länger warten. Sie wollte ihn und er sie.
Vielleicht war es ja doch nicht die schlechteste Idee sich einfach mal fallen zu lassen und nicht alles rational durchzuplanen.
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Kurzgeschichten
RandomWie der Titel schon sagt, werde ich hier ein paar Geschichten hochladen. Mal sehen, wie ich das hinbekomme.