Es war genau ein Augenblick zu lange, den er mich ansah. Er blickte in meine Seele, so tief, dass ich selbst keine Ahnung hatte, was genau sich dort befand, aber ich wusste, dass es nichts Gutes war, das konnte es nicht sein. Ich war kaputt, bestimmt hatte er den ganzen Schmerz gesehen, den ich mit mir herumtrage. Mein kaputtes Inneres, das bis jetzt noch nicht verheilt ist. Das tiefe Loch, das in meiner Brust klafft und die ganzen Narben, die mein Herz prägen. Zugegeben, es störte mich. Noch nie hatte jemand so tief in mich hineingesehen und schon gar nicht ein Fremder.
Ich sah weg. Ich hatte schon zu viel von mir offenbart und das durch einen einzigen Augenblick.
Konzentriert auf mein Getränk bemerkte ich überhaupt nicht, wie er sich neben mich setzte und mich ansah. Er sprach nicht mit mir, er sah mich nur an. Das mag sich komisch anhören, aber es war kein gaffen oder starren, es war angenehm. Eine Spur zu angenehm für meinen Geschmack. Ich wollte mich keinem Fremden hingeben.
Er hielt mir seine Hand hin und deutete mit dem Kopf auf die Tanzfläche und obwohl ich nicht dafür aufgelegt war, ging ich mit. Ich tanzte mit ihm. Wild und ausgelassen. Er ließ mich vergessen, warum ich meinen Abend überhaupt trübsalblasend und alleine in dieser Disco verbrachte. Innerlich hoffte ich auf ein Abenteuer und wie es aktuell den Anschein hatte, schien ich dieses auch zu bekommen und ich war vollkommen bereit mich darauf einzulassen.
Es wurde Mitternacht.
Eins.
Zwei.
Drei.
Schluss.
Sie schmissen uns raus, anscheinend wollten sie schon schließen. Leicht enttäuscht war ich schon, ich hatte auf mehrere Stunden mit diesem mysteriösen Mann gehofft. Ich wollte mehr von seiner Zeit stehlen und ich wollte mehr von seiner Nähe, dabei kannte ich weder seinen Namen, noch hatten wir ein Wort miteinander gewechselt, aber wir verstanden und auch so - ohne Worte.
Wir sahen uns in dir Augen. Einen weiteren Augenblick und wieder schien er mich zu lesen, wie ein offenes Buch. Er kratzte sich verlegen an seinem Hinterkopf, bis er eine Idee zu haben schien. Ganz zurückhaltend hielt er mir seine Hand hin. Er wollte, dass ich ihm vertraute und das tat ich interessanterweise, das war bei noch keinem Fremden der Fall. Sein Blick gab mir zu verstehen, dass ich mich ganz und gar nicht gezwungen fühlen sollte. Er wollte, dass ich aus freien Stücken mit ihm kam und das tat ich.
Wir spazierten durch den Park, erschreckten ein Paar schlafende Tauben und fanden uns schlussendlich in den Lavendelfeldern wieder. Ich liebte Lavendel und ich liebte die wunderschöne violette Farbe, die sie trugen. Schon als kleines Kind hatte ich diese Pflanze geliebt und hatte immer entweder eine im Kinderzimmer stehen oder in einem Duftkissen eingepackt.
Ich drehte mich im Kreis. Ich war glücklich. Und wir tanzten, ohne Musik, aber das war uns gleichgültig, denn wir hatten uns und mehr brauchten wir nicht. Seine Augen gaben mir das Gefühl alles zu können, was ich nur wollte. Ich konnte schwören, wenn ich mir in diesem Augenblick vorgenommen hätte zu fliegen, ich wäre bestimmt über den Dächern der Bauern geflogen und hätte ihn von oben beobachtet, wie er mich vielleicht panisch versuchte wieder auf den Boden zu bringen oder vielleicht auch, wie er selbst abhob und mit mir tanzte. Im Himmel, ganz nahe dem Horizont.
Aber das war alles nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. Sobald die Sonne aufgehen würde, würde er verschwinden, wie Aschenputtel um Mitternacht und bestimmt würde ich kein Glück dabei haben ihn wieder zu finden, denn das wahre Leben war kein Märchen und das musste ich teilweise noch lernen, denn egal wie schön etwas war, es fand immer ein Ende. Ich wollte kein Ende.
Ich zog ihn an seiner Hand hinter mir her und lief, so schnell ich konnte. Es gab eine Sache, die ich ihm in dieser Nacht unbedingt noch zeigen wollte und das war meine Höhle. Als Kind hatte ich sie einmal unter einem Felsen entdeckt und seit dem war das mein kleines Versteck, mein kleines Kunstwerk. Ich hatte, seit ich denken konnte, die Wände angemalt. Früher wollte ich antike Wandmalereien nachbilden, irgendwann wurden es aber eigene Kunstwerke, die immer wieder übermalt wurden, weil sie entweder nicht meinen Vorstellungen entsprachen oder ich keinen Platz mehr hatte, aber ich hatte jede einzelne Malerei auf einem Foto aufbewahrt, die ich immer wieder ausdruckte und in eine kleine Truhe legte. Ich wollte die Erinnerung an alles, was ich je geschaffen hatte, denn nichts war ewig.
Er war beeindruckt und es freute mich diesen Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. Es war wie Weihnachten und Ostern zusammen. Niemand hatte jemals eine meiner Zeichnungen gesehen, es war eine Premiere.
Und dann küsste er mich. So leidenschaftlich, wie es noch nie einer getan hatte und wir gaben uns unseren Gelüsten hin. Wer sollte uns auch aufhalten. Wir waren erwachsen und hatten unseren eigenen Kopf, das sollte reichen. Er kannte meine geheimsten Geheimnisse, ohne dass wir jemals ein Wort gesprochen hätten. Wir waren auf einer Wellenlänge.
Doch ich kannte ihn nicht.
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Fortsetzung folgt ...
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Kurzgeschichten
LosoweWie der Titel schon sagt, werde ich hier ein paar Geschichten hochladen. Mal sehen, wie ich das hinbekomme.