Kapitel 1

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Der Morgen war noch jung, als Stephan mit schnellen Schritten, drei Stufen auf einmal nehmend in den fünften Stock des Altbaus hinauf rannte. Obwohl man aufgrund seiner sportlichen Figur denken konnte, er gehörte zu der Fraktion athletischer, junger Männer, war dies kaum der Fall. Diese Strecke lief er fast täglich, besser gesagt, im Normalfall schlenderte er. Heute ging ihm die Puste aus, als er bei seinem Freund vor der Tür stand und ungeduldig dagegen hämmerte.
»Vincent, mach auf.« Erneut ließ Stephan die Faust gegen die massive Holztür krachen.
»Ich komme ja schon. Was zum Geier ist denn los?« Ein schmächtiger, junger Mann, nur mit einer Unterhose bekleidet, öffnete die Tür. Dabei trocknete er nebenbei mit einem grünen Handtuch seine Haare.
»Komm rein.« Den Satz hätte er sich sparen können. Vincents bester Freund passierte bereits die Tür und war auf dem Weg in das kleine, unaufgeräumte Wohnzimmer. »Was ist mit dir los? Du bist heute zehn Minuten früher da als sonst und benimmst dich auch noch wie ein Irrer.« Er sah kurz zu der Wanduhr hoch, um sich zu vergewissern, dass er die Uhrzeit vorhin richtig abgelesen hatte.
Es war nicht üblich, dass Stephan so überpünktlich irgendwo erschien. Vincent wirkte verwundert sowie neugierig zugleich, was seinen Freund zu dem frühen Erscheinen bewegt hatte. Er schloss die Haustür und folgte ihm durch die kleine Diele. Sich immer noch die Haare rubbelnd, sah er Stephan fragend an.
»Sei ruhig und hör zu. Ich habe es geschafft! Heute Nacht konnte ich meinen Körper verlassen. Genauso wie es in dem Buch über Out of Body Experience steht. Es funktioniert!«
»Wie jetzt?« Vincent hörte in dem Moment auf, seine Haare zu trocknen, und ließ sich in den ausgeleierten Sessel fallen.
»Ja also, es gab eine Vibration. Überall. An den Beinen zuerst, Hände und Kopf als Nächstes. Danach hörte ich diese Klingelgeräusche. Ganz leise. Dann zack, stand ich plötzlich neben meinem Bett. Es war der Wahnsinn, ich habe es endlich geschafft!«
»Ist jetzt ein Scherz, oder?«, Vincent beäugte ihn skeptisch.
»Nein, absolut nicht. Es war wirklich so, ehrlich. Es war echt der Hammer. Endlich, ich habe es geschafft. Und das war so unglaublich.« Während die Worte aus Stephan heraus sprudelten, lief er in Vincents Wohnzimmer auf und ab. Er gestikulierte wie wild und gab sich Mühe, nicht durcheinander zu erzählen, was ihm aufgrund der vielen neuen Erkenntnisse sehr schwer fiel. Vor lauter Aufregung entging es ihm, dass sein Freund das Wohnzimmer längst verlassen hatte. Während Vincent im Bad verschwand, um sich für die Uni fertigzumachen, waren die Zierfische die einzigen Zuhörer in dem Raum. Als Stephan dies bewusst wurde, nahm er erneut in dem Sessel Platz und rieb ungeduldig mit den Handflächen über seine Jeans.
Fassungslos, dass er alleine sitzen gelassen wurde, lehnte er sich zurück und starrte vor sich hin. Er wusste, dass es eine Ewigkeit dauern konnte, bis Vincent sich im Bad für die Uni fertig gemacht hatte. Nach einer Viertelstunde wurde er ungeduldig; er ließ alle Gelenke seiner Finger nacheinander knacken. Das war pure Absicht, denn er wusste, dass sein Freund es hasste. Zu früheren Zeiten, als Teenager, hatten sie sich deswegen öfters geprügelt. In der Hoffnung, Vincent würde es mitbekommen, fing er sogleich von Neuem an, die Finger nacheinander durchzubiegen.
»Ich höre dir zu«, vernahm er aus dem Bad. Im nächsten Augenblick erschien sein Freund in der Wohnzimmertür, schick angezogen und mit gestylten Haaren. »Und das Knacken ist mir auch nicht entgangen!«, sagte er. Rasch zog er die schwarzen Halbschuhe an und klemmte sich eine braune Ledertasche unter den Arm. Er war wie immer elegant gekleidet. Selbst in der Uni trug er im Gegensatz zu Stephan und den anderen Mitstudenten keine Jeans oder ausgewaschene T-Shirts.
 Die dunklen, dichten Haare trug er streng, mit Gel nach hinten gekämmt und war jeden Tag frisch rasiert. Vincent war ein absoluter Frauenschwarm. Er hatte ein makelloses Gesicht, braune Augen, lange Wimpern, dichte Augenbrauen und hohe Wangenknochen. Stephan war manchmal ein wenig neidisch auf seinen Freund. Sich selbst würde er eher zu der durchschnittlich gut aussehenden Bevölkerung dazu zählen.
Im gleichen Augenblick, in dem Stephan die Erzählung über die letzte Nacht erneut aufnehmen wollte, wurde er direkt von Vincent unterbrochen. »Steph, tu mir den Gefallen, halte bitte die Klappe. Zumindest so lange, bis wir im Auto sitzen, ich meinen ersten Kaffee trinken kann und mich halbwegs wach fühle, okay?«
Im selben Moment drehte er Stephan den Rücken zu und ging voraus in den Flur. Danach öffnete er die Wohnungstür und ging in das Treppenhaus hinaus. So tickte er morgens, sein Freund hatte es zigtausend Mal erlebt. Auf einen Fremden konnte dieses Verhalten arrogant wirken, aber so frühes Aufstehen mochte Vincent nicht. Stephans übliche Reaktion darauf war, die Augen zu verdrehen. Lustlos setzte er sich ebenfalls in Bewegung und folgte ihm durch den Korridor.
»Na schön. Tankstelle oder McDonalds?«, fragte Stephan, während sie die Wohnung verließen.
»Egal, Hauptsache Koffein.«
Vincent warf den Autoschlüssel in die Luft, als sie vor dem Haus standen. »Fahr du heute.« Sie stiegen in den alten, weißen Golf ein, der direkt vor der Haustür parkte. Er hatte das Auto geerbt. Dafür war er sehr dankbar und hoffte, die alte Gurke würde noch lange halten. Das Geld gab er viel lieber für schicke Klamotten aus, als für ein neues Fahrzeug. Manchmal musste man zwar etwas Geduld mitbringen, wenn der Golf an sehr kalten Wintertagen mehrere Startversuche benötigte, aber sonst fuhr er einwandfrei. Stephan beteiligte sich sporadisch an den Benzinkosten. Schließlich durfte er jeden Tag mit Vincent in die Uni fahren, sogar auch regelmäßig zurück nach Hause, wenn sie gemeinsam mit den Vorlesungen fertig waren. Man könnte durchaus sagen, sie teilten sich den Wagen, wie es bei einem Carsharing üblich war. Dieses Arrangement zwischen den beiden funktionierte einwandfrei.
Stephan setzte sich hinter das Steuer und schnallte sich an. Erst als er den Gurt auf der Beifahrerseite einrasten hörte, fuhr er los.

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