Kapitel 2

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Wenige Minuten später parkte er direkt vor der Uni. Ein übergewichtiger Junge mit glatten, dunkelblonden Haaren, die scheinbar länger keinen Friseursalon mehr von innen gesehen hatten, lief auf sie zu. Die Jeans lagen eng an der Hüfte an. Das gestreifte T-Shirt, welches in die Hose gestopft war, saß recht knapp. Als er die Arme hoch hob, um zu winken, rutschte es nach oben und zeigte seinen Bauchnabel. Unter den Achseln zeichneten sich schon Schweißflecken ab, obwohl es erst sehr früh am Morgen war. Er war bereits als Kind übergewichtig gewesen. Im Kindergarten wurde er von den anderen Kindern geärgert und später in der Schule von seinen Klassenkameraden beleidigt und verhöhnt. Zu der Zeit nannten ihn seine Mitschüler »Pickelhippo«. In der Uni ließen ihn die meisten Studenten in Ruhe. Die Mitstudenten zeigten keinerlei Interesse daran, mit ihm befreundet zu sein, aber zumindest ärgerten sie ihn nicht. Dafür war er absolut dankbar.
»Hallo, Thomas. Wie war denn dein Wochenende?«, fragte Vincent, während er die Autotür laut zuknallte.
»Hi. Na ja, nichts Besonderes. Hab nur an einem neuen Programm gebastelt. Und was habt ihr so gemacht?« Thomas verbrachte die meiste Zeit vor dem Computer. Egal ob zu Hause oder in der Uni. Er empfand es toll, neue Programme zu entwickeln oder Actionspiele zu spielen.
»Wir haben gelernt!«, sagte Vincent, während er die Augen nach oben rollte. Sein Freund bestätigte das mit einem knappen Nicken. Dabei wussten beide, dass sie viel zu wenig für den Test getan hatten.
»Ja, wir schreiben heute eine Klausur.« Während Stephan antwortete, lief er voraus zur Eingangshalle, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Vincent machte es ihm nach, etwas verwundert über diese Eile. Thomas versuchte zu folgen. Schließlich stellte er sich breitbeinig hin, stemmte die Arme in die Hüfte und sah nach oben, als er dem Schritt der beiden nicht mehr halten konnte.
»Hey!«, schrie er. Das zeigte Wirkung. Stephan und Vincent blieben sofort stehen und drehten sich zu ihm um. »Könntet ihr mir vielleicht verraten, was los ist? Warum diese Eile und überhaupt … irgendwas stinkt hier zum Himmel.« Er sagte das so laut, dass einige der Studenten, die ebenfalls auf dem Weg zu den Vorlesungssälen waren, sich aus Neugierde umdrehten.
»Oh man, es ist doch nichts. Was soll denn sein? Lasst uns weiter gehen. Wir kommen noch zu spät.« Stephan drehte sich um und stieg die Treppe hoch, während Thomas auf seine Armbanduhr schaute und fassungslos den Kopf schüttelte.
»Zu spät? Das ist doch jetzt nicht dein Ernst! Ihr seid zehn Minuten eher da als sonst! Was soll das? Wollt ihr mich verarschen?« Thomas hatte in diesem Moment ein rotes Gesicht und war deutlich aufgewühlt. Er wurde viel zu oft in seinem Leben geärgert und hatte Angst, dass die beiden ihn nun auch auf die Schippe nehmen würden. Das wollte er nie wieder zulassen.
Stephan beachtete ihn nicht, lief die Treppe weiter hoch und verschwand in dem Korridor, der sich direkt nach dem Treppenaufgang auf der rechten Seite befand.

Vincent war etwas hin und her gerissen und hatte Schwierigkeiten damit, eine Entscheidung zu treffen. Er stand einige Sekunden auf dem letzten Drittel der Treppe und schaute nach oben, wo sich noch vor einigen Augenblicken Stephan befunden hatte, und sah anschließend hinunter zu Thomas. Er ging die wenigen Stufen abwärts und legte die Hand auf dessen Schulter.
»Pass auf, Steph hatte heute Nacht ein Erlebnis, das er für OBE hält. Du musst ihn verstehen, beim letzten Treffen gab es doch jene Auseinandersetzung und du lachtest ihn aus, als er erzählte, dass er kurz davor sei, dieses Experiment zu schaffen.«
»Ah, er hat das bestimmt nur geträumt. Stephan steigert sich gerne in irgendwas hinein.«
Nun ging Thomas die Stufen weiter aufwärts. Die Schritte waren langsam und er ließ dabei den Kopf hängen. Vincent schaute ihm kurz nach und folgte ihm die Treppe hinauf. Für den angehenden Informatiker war es schwer, an solche Dinge zu glauben. Er war durch und durch Realist. Als er vor kurzem Stephan ausgelacht hatte, meinte er es keinesfalls böse. Vielmehr hielt er es für eine Spinnerei der beiden, etwas zu versuchen, was es auf keinen Fall geben konnte. Er glaubte nicht an so einen Unfug, wie andere Welten oder Parallelwelten, weil es nichts Greifbares war.
Stephan war damals sehr enttäuscht, nachdem er über die ersten Versuche berichtete und Thomas das alles belächelt hatte. Aber die Sympathie für den pummeligen Informatiker war jedoch schon vorher nicht sonderlich groß gewesen.
Als Vincent im letzten Semester Thomas auf einer Studentenparty kennengelernt hatte, war Stephan nicht besonders erfreut, vielleicht sogar etwas eifersüchtig. Die Freundschaft zwischen ihnen konnte aber keiner so schnell zerstören. Immerhin kannten sie sich schon seit der Sandkastenzeit. Freunde fürs Leben sozusagen, wie es so schön heißt. Vincent mochte den übergewichtigen, jungen Mann trotzdem, auch wenn er keinesfalls einfach gestrickt war, zumindest was das Erscheinungsbild und die Engstirnigkeit anging. Nur weil die beiden keine große Sympathie zueinander aufbauen konnten, war Vincent nicht bereit, auf diese Freundschaft zu verzichten.
»Wenn du willst, dann komm heute Abend zu mir. Vielleicht ist Stephan nachher besser drauf«, rief er ihm noch schnell zu, bevor Thomas in dem linken Korridor verschwinden konnte. In dem Bereich der Uni befanden sich die Räume, in denen Vorlesungen für angehende Informatiker stattfanden.
»Ich weiß es nicht. Eventuell. Werde es mir überlegen«, murmelte Thomas leise und ging mit gesenktem Kopf davon.
Vincent lief los, um Stephan vor dem Saal einzuholen, in dem Naturwissenschaften gelehrt wurden. Er schaffte es jedoch nicht rechtzeitig. Als er den Raum mit vielen Stühlen und Bänken betrat, hatte sein Freund bereits seinen Sitzplatz eingenommen. In den Vorlesungssälen dieser Uni konnte man den Eindruck gewinnen, sich in einem Bunker zu befinden. Es gab keinerlei Fenster. Die Bänke waren wie in einem Kinosaal in einer leichten Neigung angeordnet, damit die Studenten in den letzten Reihen alles sehen konnten, was sich unten an der Tafel abspielte. Im oberen Bereich des Saals gab es zwei Türen, die aus dem Vorlesungssaal hinaus führten. Die beiden Ausgänge machten es möglich, dass der Raum im Notfall schnell verlassen werden konnte. Neben der Lehrtafel existierte noch eine weitere Tür, die meistens von den Dozenten benutzt wurde. Die Einrichtung in allen Sälen bestand aus Bänken und Schreibpulten, die aus einem dunklen Vollholz gezimmert waren.
Vincent setzte sich neben seinen Freund auf die Bank und wünschte ihm viel Glück für die Klausur. Stephan wünschte ihm ebenfalls ein gutes Gelingen, obwohl man es durchaus merkte, dass er immer noch schlechte Laune hatte.
Als der Professor herein kam, waren sie erneut in ihren Gedanken versunken. Insgesamt war die Konzentration bei dem Test für beide nicht berauschend. Stephan musste ständig daran denken, dass er von Thomas zu sehr enttäuscht wurde und sich keineswegs in der Lage fühlte, seinen Freund mit ihm zu teilen. Er fand es damals überhaupt nicht nett und taktvoll, als er alles ins Lächerliche gezogen hatte.
Vincent wiederum hoffte, heute Abend einiges aufklären zu können und erwartete, dass die beiden sich aussprechen würden. Er ging davon aus, Stephan ließe sich nicht blicken, sobald er erfahren würde, dass Thomas ebenfalls eingeladen wurde. Aus dem Grund schwieg er. Es war ja sowieso noch ungewiss, ob er erscheinen würde.

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