Ankunft Kapitel 1

45 7 1
                                    

Iva hatte den dringenden Wunsch mit den Fäusten ihre Augen zu reiben.

So, wie es gemacht wurde in den Cartoons aus ihrer Kindheit, wenn irgendwas Unglaubliches passierte und die Charaktere nicht glauben konnten, dass es sich um die Realität handelte. Dass das, was sie vor sich sahen echt war.

Der Impuls war albern und kindisch und würde nichts an der Situation ändern, aber der Drang blieb. Für mehrere pfeifende Atemzüge zuckten ihre Finger an der Felswand, als wollten sich ihre Hände zu Fäusten ballen, bevor sie lautlos durch den Mund einatmete und sich stählte, um die Fakten aufzuzählen.

„Das Licht ist falsch" sagte sie als erstes und war erstaunt, wie näselnd ihre Stimme klang. Auch das Pfeifen ihres Atems ging ihr auf den Keks, aber sie konnte schlecht etwas an ihrer gebrochenen Nase machen. Zumindest nicht in der unsicheren Lage an der Felswand. Und zurück in die Höhle würde sie nicht gehen, um sich noch einmal die schmerzende Beule an ihrer Stirn oder die Schwellung ihrer Nase und Wangen zu betasten. Das hatte vorhin schon nicht geholfen und außerdem war die Höhle stockdunkel und gruselig. Irgendwas Ledriges flatterte darin und irgendwas Schuppiges schlurfte über den harten Untergrund.

Iva schauderte und festigte ihren Griff an der Wand. Die Öffnung der Höhle war nur wenige Schritte entfernt mit einem Bierkasten-großen Eingang und einem schmalen Steg, aber Iva weigerte sich noch einmal in die Nähe zu gehen.

Stattdessen leckte sie ihre Lippen, die nach alten Pfennigen schmeckten und wiederholte: „Das Licht ist falsch."

Und es war tatsächlich falsch. Als hätte man die Landschaft vor ihr mit Photoshop nachbearbeitet, um all die Unreinheiten der Luft aus Fabrikanlagen und Autoabgasen heraus zu reinigen, das Licht zu vergolden und dann alles in Perfektion zu filtern. So ein klares, perfektes Licht gab es nicht in der Realität. Zumindest nicht seit der Industriellen Revolution.

Der Sonnenaufgang zu ihrer Linken war nicht pink, orange, violett und blau, sondern goldig-weiß. Sauber, wenn auch weniger romantisch. Weniger beeindruckend. Und trotzdem zuckten Ivas Finger in dem wilden Verlangen ihren sicheren Griff an der Felswand loszulassen, um sich die Augen zu reiben.

Sie atmete stattdessen pfeifend durch ihre Nase aus und ließ ihren Blick über die Landschaft, die sich unter ihr erstreckte, schweifen, bis sie schließlich an dem nächsten Fakt hängenblieb. „Es ist eine Wanne." Sie nickte sich selbst zu. „Eine riesige Wanne."

Oder ein Tal, umgeben von riesigen Bergketten. Riesig. Die Dimensionen waren so unglaublich, dass die Morgensonne es kaum schaffte ein Viertel der Talfläche in Schatten zu hüllen. Und jeden Moment wurden die Schatten kleiner.

Eisige, weiße Bergspitzen tüpfelten den Horizont in fast alle Richtungen, scharfe, schiefer- und erdfarbene Felskanten schossen kilometerhoch in die Luft und steinige Falten rollten so weit das Auge reichte, bevor es zur Mitte hin – zum Tal hin – abflachte und sich der Fuß der Berge mit Grün, Bäumen und Tannen schmückte. Doch Ivas Augen folgten nicht der rund-zackigen Linie der unregelmäßigen Baumreihen und Geröllflächen, sondern ihr Kinn blieb gereckt, ihr Blick auf den Horizont.

„Die Wolken berühren die Bergspitzen nicht", stellte sie schließlich fest. Der Himmel und die Wolken waren fast doppelt so hoch wie der höchste Berggipfel. Irgendwie schienen die Dimensionen nicht zusammenzupassen, doch Iva hatte nicht genug Erfahrungen, um mit Sicherheit auszuschließen, dass dies ein ungewöhnliches Phänomen war, deshalb konzentrierte sie sich wieder auf das Tal.

Sie kniff die Augen zusammen und veränderte ihren Griff an der Wand, um ihre rechte Hand etwas mehr zu schonen. „Das ist Gras!"

Tatsächlich war das Tal mit dunkelgrünem Gras bedeckt, so dunkel, dass es aus der Entfernung in der Morgensonne fast blau wirkte. Der gewellte Boden mit hohen Hügeln und tiefen Furchen zusammen mit den Flecken an weißen... Blumen? ... riefen für Iva Meereswellen mit Gischtkronen in Erinnerung, statt die üblichen Grasflächen. Doch es war Gras. Möglicherweise. Wahrscheinlich.

Es war schwer definitive Aussagen zu treffen, weil sich scheinbar die weißen Blumen bewegten. Sie schienen sogar ihre Plätze zu ändern – also nicht nur in der Brise zu wippen. Für lange, pfeifende Atemzüge beobachtete Iva die weißen Tupfer, bevor sich plötzlich ihre Augen weiteten. Die weißen Tupfer begannen Linien zu bilden und sich in eine Richtung zu bewegen. Ziel der Reise schien eine Ansammlung von Formen am Fuß der gegenüberliegenden Bergkette zu sein.

Es dauerte eine Weile, bis Iva schließlich sicher genug war, um sagen zu können: „Das sind Tiere. Kühne oder Ziegen auf der Suche nach Futter. Oder so."

Wenn das ausgewachsene Ziegen – oder im schlimmsten Fall Kühe – waren, mit was für Entfernungen musste Iva hier arbeiten? Vielleicht waren es Kaninchen, versuchte sie sich zu beruhigen und verwarf alle weiteren Gedanken an die weißen Tüpfel.

Sie warf einen Blick hinter sich und nach oben, bevor sie vorsichtig ihren Griff und ihre Fußstellung änderte, um sich umzudrehen und mit dem Bauch die Felswand zu berühren. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und sah auf.

„Etwa ein Drittel. Ein Viertel? Nein, nein. Ein Achtel. Kaum über die Grenze der Baumreihen hinweg. Ich bin nicht weit oben." Sie zögerte. „Relativ gesehen." Sie biss auf ihre Unterlippe und sah entschieden nicht direkt nach unten. Den Fehler hatte sie bereits begangen, als sie aus der Höhle kroch. Ihre panischen Schreie hatten auf tonlose Art geechot, die ihre Panik nur noch wachsen ließ. Es hatte ewig gedauert, bis sie aufgehört hatte mit dem kreischenden Kreislauf.

Stattdessen atmete sie tief ein und aus, bevor sie ihre Fingernägel tiefer in die Felswand grub und sich vorsichtig zurücklehnte. Rechts von ihr war die Höhle, aus der sie gekrochen war. Direkt daneben schoss eine kantige Steinwand in die Höhe, die unmöglich war zu umklettern. Iva drehte ihren Kopf. Links von ihr war eine glatte Fläche, die oben drüber und unten drunter aufraute und einige Einbuchtungen für ihre Füße und Hände offenbarte, wo sie sich entlang robben konnte. Dafür müsste sie also nur weiter nach oben oder unten klettern. Das war kein Problem, denn es waren kaum zwei... vielleicht fünf Meter. Gar kein Problem. Und dahinter...

„Ein Weg", hauchte Iva. Sie lehnte sich weiter zurück und versuchte der geschlängelten Pfad mit den Augen zu folgen. Ein felsiger Steg, weitaus breiter als der direkt vor der Höhle, erstreckte sich in einer leichten Kurve um den Berg und zog sich nach unten, bevor er eine Drehung machte und hinter dem nächsten Felsvorsprung verschwand. Kleinere Geröllhaufen hatten sich im Laufe der Zeit an verschiedenen Stellen angesammelt und versperrten den sonst mühelos begehbaren Weg. Zur Klippe hin waren an einigen Stellen sogar verrottete Reste zu sehen, die man als Geländer erkennen konnte.

„Kein natürliches Vorkommnis. Das ist gebaut worden. Und wenn es jemand gebaut hat, dann sollte es auch irgendwohin führen. Vielleicht..." Sie unterbrach sich, als ein Gedanke in ihren Kopf schoss. „Die Kühe! Es ist frühmorgens, die Kühne sind auf dem Weg gemolken zu werden! Das bedeutet Menschen!" Ihre Schultern sackten bei ihrem nächsten pfeifenden Atemzug etwas nach unten.

„Oder Aliens", murmelte sie, bevor sie sich bremsen konnte.

Statt weiter über große Augen und birnenförmige Ballonköpfe von E.T. nachzudenken, lehnte sie sich wieder zurück und plante ihren Weg, den sie klettern würde. Hinauf, einen Bogen um das seltsame violette Gewächs, einen Schritt auf die Kante dort setzen, dann herum und...

Die Abstände sollten passen, sagte sie sich und hob als erstes ihre linke Hand, um den nächsten Griff zu nehmen, dann den rechten Fuß auf den Vorsprung und das Gewicht verlagern, nach oben ziehen, linken Fuß aufsetzen und...

„Uff", machte sie. „Gut, gut. Erster Schritt getan. Zweiter Schritt, hier komme ich!"

Kein plötzlicher Windstoß regte sich und keiner der Stufen gab nach. Nur etwas Sand rieselte an ihr vorbei, während sie sich langsam in die richtige Richtung bewegte. Trotzdem musste sie ständig das Klettern unterbrechen, um das Zittern in ihren Gliedmaßen wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Adrenalin", keuchte sie bei ihrem letzten Schritt und sackte auf dem Weg in sich zusammen. „Das war nicht anstrengend. Die einfachste Schwierigkeitsstufe an der Kletterwand. Gar kein Problem eigentlich. Nur die Todesangst ist etwas unbequem." Es spielte keine Rolle, dass sie das letzte Mal auf dem Kindergeburtstag ihrer Cousine einen Kletterpark besucht hatte und seither bis auf wenige Ausnahmen jede Art von Sport vermieden hatte.

Iva blieb eine Weile sitzen, bis ihr Körper aufhörte zu schlackern, bis sie schließlich aufstand und ihre Kleidung abklopfte. Dann machte sie sich auf den Weg.

Heroes are stupid!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt