Die Tür des Balkons schwang auf und eine in Weiß gekleidete Reihe von Gardisten schritt auf die erhobene Plattform. Der Balkon war eigentlich ein mit Granitplatten ausgelegter Vorsprung des Berges, der wie so viele andere Berge in Sincan auch, besonders nah am Meer gelegen war. In diesem Berg befand sich der königliche Palast - zumindest in einem Teil. Vom Balkon ging der Blick auf den Marktplatz hinaus, der heute mehr mit Menschen als mit Ständen gefüllt war. Einige Häuserreihen trennten den Marktplatz vom Hafen, in dem kleine Handelsschiffe und Fischerboote an schmalen Stegen vertäut dalagen und im leichten Wellengang des Hafens auf und ab schaukelten. Aufgeschüttete Erd- und Steinhügel schützen das Hafenbecken vor der Strömung des offenen Meeres, sodass die Schiffe im Hafen sicher waren. Der Geruch von Salzwasser, Seetang und Fisch wurde von der steifen Brise bis auf den Balkon geweht und die Gewänder der Anwesenden flatterten.
Die Gardisten stellten sich entlang eines feinbehauenen mit steinernen Ranken verzierten Geländer auf und musterten misstrauisch die Menge, die den Marktplatz von Sincans Hauptstadt, Reidro, füllte. Es war vor allem gemeines Volk, Weber, Schuster, Fischer und andere Beschäftigte starrten nach oben. An den Seiten des Halbkreisförmigen Platzes hatten Händler ihre Stände aufgebaut und um die Aufmerksamkeit der Masse gebuhlt, doch das Öffnen der Tür hatte sie zum Verstummen gebracht.
Hinter den Gardisten schritten einige Edelleute auf den Balkon, doch sie hielten sich zurück. Die meisten von ihnen waren wohlhabende Händler, Minen- und Schiffsbesitzer, die sich mit ihrem Geld und Ansehen einen Platz auf dem Balkon verdient hatten. Doch auch einige politische Ehrengäste waren unter ihnen, unter anderem einer der Hohepriester von Ziorbal zusammen mit dem Botschafter und seiner Tochter und deren Wächter, der sie überall hin zu begleiten schien. Während die anderen Gäste auf dem Balkon Menschen waren, waren diese drei Elfen, Repräsentanten des guten Willens Ziorbals, das wichtige Handelsabkommen mit Sincan geschlossen hatte. Die Elfen unterschieden sich nicht in besonderer Weise von Menschen, nur ihre Bewegungen schienen ein wenig flüssiger und ihre Gesichter kühler, als sie auf den Balkon hinausschritten. Auch ihre Kleidung unterschied sich von der der Einheimischen. Sie trugen flatternde Stoffe, die mit kunstvollen Verzierungen zusammengenäht waren, welche einige der Anwesenden zu imitieren suchten. Außerdem waren die Farben ihrer Kleidung gedeckter, während die anderen Gäste sich in grellen Farbkombinationen präsentierten.
Alle Anwesenden, sei es auf dem Platz oder auf dem Balkon, waren an diesem Tag da, um der Krönung des jungen Kronprinzen Timotheus II. beizuwohnen.
Hinter den Elfen trat eben jener auf die Plattform.
Timotheus II. war ein feingliedriger junger Mann, mancher hätte wohl schwächlich gesagt, mit einer spitzen Nase, großen Augen und einem schwachen Kinn, dunklen, zotteligen Haaren und vollen Augenbrauen, die seine Augen überschatteten, als wäre er konstant in Gedanken versunken. Er ging in einem Mantel aus Tierfellen unter, die alle meisterlich erhalten und zusammengenäht waren, sodass er aussah wie ein Junge, der mit den Fellen seines Vaters Verkleiden spielte. Die Streifen eines Tigers verband sich mit den Zotteln eines Braunbären und diese grenzten an die graue Wolle eines Steinbocks oder an das hellbraune Fell eines Elchs. Nur sein erhobener Kopf und die geraden Schritte, mit denen er an die Brüstung des Balkons lief, verliehen ihm so etwas wie Würde.
Doch er war nicht der Letzte, der den Balkon betrat, denn hinter ihm schritt seine Mutter, Königin Hilda I., in ein weit ausfallendes, aus dunkelrotem Stoff schimmerndes Kleid gekleidet, auf die Plattform hinaus. Auch sie besaß eine spitze Nase, doch ihre Augen waren klein und vorsichtig, ihre Stirn hoch und ihre hellen Haare in einer strengen Steckfrisur auf ihrem Kopf aufgetürmt, für die die Dienerinnen am Morgen einige Stunden gebraucht hatten. Sie stellte sich hinter ihren Sohn und blickte auf die Menge. Ein herbeihuschender Diener, der sofort wieder im Inneren des Berges verschwand, gab ihr einen Metalltrichter, den sie sich an die Lippen hielt, als sie begann zu sprechen.
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Wie der Drache das Fürchten lernte
FantasiaTimotheus sollte eigentlich zum König gekrönt werden. Doch während der Zeremonie wird seine Mutter, Königin Hilda, beinahe ermordet und alles geht den Bach runter. Ausgerechnet die Tochter des elfischen Botschafters und deren Wächter sind es, die ih...