Vor Entsetzen konnte Timotheus nichts dagegen tun, als Balsa ihn mit sich zog. In seinem Kopf drehte sich alles. Natürlich war er auch nicht gerade erpicht darauf gewesen von einem Elfen gekrönt zu werden, aber deswegen gleich die Burg zu stürmen? Das ging ihm dann doch ein bisschen schnell. Wo war all diese Wut hergekommen, die das Gesindel dazu gebracht hatten, gewaltsam in die Regierungsstätte einzudringen?
»Wisst Ihr, wo sie in die Burg kommen?«, fragte Balsa den Diener durch Timotheus wirre Gedanken hindurch.
»Vor allem durch das Haupttor«, keuchte der Diener.
»Was ist mit den Wachen?«, fragte Esmeralda. Sie lief neben Balsa her.
»Hab ich keine gesehen«, antwortete der Diener.
Balsa lief auf eine Treppe zu, die in höhere Teile der Burg führten. »Das bedeutet wohl, dass sie vor allen Dingen in den unteren Geschossen eindringen. Wir sollten also von den höheren Ebenen aus flüchten.«
»Flüchten? Wieso flüchten?«, fragte Timotheus.
»Wegrennen träfe es auch ganz gut«, sagte Esmeralda mit ironischem Unterton, »aber wenn ich vor einem wütenden Mob wegrenne, dann würde ich das schon flüchten nennen.«
»Aber, wieso sollten sie überhaupt...« Timotheus sprach seine Frage nicht aus, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch Unrecht hatte. Stolpernd folgte er Balsa die Stufen hinauf und wäre beinahe in seiner Hast ausgerutscht.
Esmeralda schüttelte den Kopf und lachte verbittert. »Natürlich weißt du nichts von den Zuständen, die in der Stadt herrschen.«
Balsa knurrte. »Esmeralda.«
»Was? Ist doch so! Ein König, der keine Ahnung von der Armut seiner Bevölkerung hat, der hat irgendwas falsch gemacht, findest du nicht?«
»Aber ich weiß, dass die Leute arm sind«, keuchte Timotheus.
Vor ihm kam Balsa auf der obersten Treppenstufe zum stehen und auf etwas zu warten. Dann lief er den Gang entlang und den nächsten nach links. Die Truppe folgte ihm, der etwas untersetzte, magere Diener bildete den Schluss. Er konnte kaum Schritt mit Balsa und Esmeralda halten. Hätte ihn Balsa nicht mitgezogen, Timotheus war sich sicher, ihm wäre es ähnlich ergangen. So wurde er mehr hinterhergeschleift, als dass er wirklich selber rannte. Mehr als seine Füße bewegen und aufpassen, dass er nicht irgendwo dagegen gezogen wurde, musste er nicht machen.
»Schließlich war Krieg. Kein Wunder, dass das Land danach erstmal eine Weile braucht, um sich zu erholen.«
»Zwölf Jahre«, zischte Esmeralda, die mühelos mit Balsa Schritt hielt, »sind keine Weile. Das sind zwölf Jahre Unterernährung, Schwerstarbeit und Kinderlosigkeit für die meisten Familien! Wenn es überhaupt noch eine Familie gibt.«
Etwas betroffen schaute Timotheus zu Esmeralda über die Schulter.
In ihren Augen brannte die Wut über die Umstände, in der sich die Leute befanden.
»Und du ignoranter Idiot tust so, als hättest du eine Ahnung, was da draußen in den Menschen vor sich geht, wenn du all die Jahre, von Mami behütet, im Schloss aufgewachsen bist!
»Esmeralda!«, mahnte Balsa.
»Du kannst mir nicht den Mund verbieten, Balsa! Der unfehlbare König hier hat so wenig Ahnung, dass die Wellen mehr über die Zustände seiner Untertanen wissen als er!«, fluchte sie.
»Spar dir deinen Atem lieber für den Aufstieg«, riet Balsa Esmeralda über die Schulter hinweg und steuerte die Gruppe auf eine Wendeltreppe zu, die sich nach oben in den Stein wand wie das schwarz geöffnete Maul eines Berglöwen. Kurz wunderte sich Timotheus, warum er diese Wendeltreppe noch nie gesehen hatte und woher Balsa sie kannte.
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Wie der Drache das Fürchten lernte
FantasíaTimotheus sollte eigentlich zum König gekrönt werden. Doch während der Zeremonie wird seine Mutter, Königin Hilda, beinahe ermordet und alles geht den Bach runter. Ausgerechnet die Tochter des elfischen Botschafters und deren Wächter sind es, die ih...