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In dem Saal ist es nicht gerade voll. Anscheinend haben viele Patienten meine Einstellung der letzten Tage. Hinten sehe ich den Bereich der Essgestörten. Sie sitzen alle an einem großen, runden Tisch. Zwischen ihnen wuseln Schwestern herum, von denen sie regelrecht gefüttert werden. Ich finde es lächerlich. Nicht zu essen, weil man sich zu fett fühlt oder einem das Gewicht egal ist, ist für mich keine Krankheit.

Ich lasse mich an einem kleinen Tisch neben Luna nieder.
Sie isst bereits. Ich frage mich, warum sie so dünn war, denn sie isst eigentlich recht viel.
„Ich finde das mit den Essgestörten unsinnig."
Sie sieht nicht auf, spricht aber mit mir: „Das ist auch eine Krankheit."
„Die sind doch alle nur mit ihrem Gewicht nicht zufrieden."

„Nein, sie sind mit sich selbst nicht zufrieden", flüstert Luna. Daran, dass sie so gut wie nie laut spricht, habe ich mich bereits gewöhnt, „siehst du den Jungen mit den braunen Locken."
Ich werfe unauffällig einen Blick zu dem Tisch hinüber. Sofort entdecke ich ihn. Er ist, wie die Jungen aus meiner Klasse gesagt hätten, ein Lauch.

„Das ist Finley. Er war früher fett und ist dann nicht mehr aus seiner Diät herausgekommen. Nun wiegt er weniger als ich."
Überrascht hebe ich meine Augenbrauen. Luna ist höchstens 1,60 groß, der Typ jedoch sieht aus wie 1,80.

„Neben ihm ist Maxima. Das Mädchen mit der dunkleren Haut und den wilden dunklen Locken."
Ich nicke. Ihre Locken sind noch heftiger als die von Finley.
„Sie wurde gemobbt. „Fette Kuh" haben sie ihr auf den Oberschenkel tätowiert."

Ich schlucke heftig.
„Ihr gegenüber sitzt Zara. Zara wurde ebenfalls gemobbt, aber weil sie lesbisch ist. Daraufhin hat sie aufgehört zu essen. Wieso genau weiß ich nicht, sie redet nicht mit mir."

„Aber du scheinst sie alle zu kennen."
Ein Lächeln breitet sich auf Lunas Lippen aus.
„Ich kenne sie alle. Es ist zu so einer Art Hobby für mich geworden. Egal welche Person, ich kann dir etwas über sie sagen."

„Also kennst du auch Blade?"
„Natürlich. Blade ist hier mindestens so bekannt wie Deborah. Die Beiden sind regelrechte Stars. Jeder kennt ihre Geschichten, woran ich wahrscheinlich nicht ganz unbeteiligt bin."
Sie lächelt scheu.

Ich erwidere ihr Lächeln: „Dann scheinst du ja die laufende Informationsquelle zu sein."
„Kann man wohl so sagen."
Schüchtern streicht sie eine ihrer blonden Strähnen zurück.
„Schön dich hier mal zu sehen", erklingt eine Stimme.

Ich blicke auf. Deborah steht vor mir und stellt einen Teller ab. Missmutig blicke ich auf das belegte Brötchen. Du wirst essen! Du musst essen, ermahne ich mich.

„Guten Appetit."
Damit dreht sie sich um. Verwirrt blicke ich ihr nach. Sind heute etwa alle anders als sonst.
„Vielleicht solltest du nach ihr sehen", flüstert Luna.
Überrascht huscht mein Blick zu ihr: „Weißt du etwas?"

„Ja, und wie ich sagte: Du solltest zu ihr gehen."
„Was ist es?", will ich wissen.
„Sie sollte es dir sagen, also geh."
Immer noch etwas unsicher, über das was gerade passiert, erhebe ich mich und eile Deborah nach, die im Flur verschwindet.

Ich schaffe es, die Tür gerade noch zu ergreifen, ehe sie zu fällt.
So schnell ich kann, renne ich ihr nach.
Deborah steuert geradewegs die Toiletten an. Ich sehe, wie sie darin verschwindet und darauf gefolgt erklingt das Geräusch des Drehschlosses.

„Deborah?", frage ich, als ich durch die Tür herein stolpere.
Mein Blick huscht über die Schlösser: Offen, offen, offen, besetzt!
Auf leises Sohlen nähere ich mich der Tür und klopfe vorsichtig dagegen.
„Was ist los, Schneewittchen."
„Geh!"

„Nicht bevor du nichts gesagt hast."
„Du kannst sowieso nichts daran ändern."
„Erzähl es mir trotzdem."
Ich kann ihr tiefes Seufzen deutlich hören: „Sie verlegen Tobias hierher."

„WAS?", entfährt es mir. Ich muss aufpassen, um nicht zu laut zu schreien.
„Ich konnte es auch nicht glauben. Sie sagen, er hat sich in den fünf Jahren verändert. Er ist nun ein besserer Mensch, aber das glaube ich ihnen nicht. Warum sollte er denn auch anders sein? Sobald er die Gelegenheit hat, wird er mich oder sich töten."

„Aber...", ich verstumme. Was soll ich denn auch sagen?
Keines meiner Worte kann die Situation, in die Deborah geraten ist, verändern.
Es ist verwirrend, sie so zu sehen...so verletzlich.

In meinen Augen war sie immer stark und selbstbewusst, doch nun ist sie so anders.
„Wann kommt er?"
„Morgen. Sie haben schon alles geregelt. Ich weiß, ich sollte nicht so sein. Vielleicht hat sich in den fünf Jahren wirklich etwas verändert, aber ich kann das einfach nicht."

Ein leises Klicken erklingt und im nächsten Moment wird die Tür vorsichtig geöffnet.

Ich versuche Deborah, die mit geröteten Augen zusammengekauert auf dem Klodeckel sitzt, nicht allzu sehr anzustarren. Stattdessen spreche ich weiter: „Warum bringen sie ihn nicht woanders hin."

Sie seufzt: „Das habe ich mich auch gefragt. Wahrscheinlich weil die normale Klinik im Nachbarort sehr klein ist und es sonst in der Umgebung keine geschlossenen Kliniken gibt. Dann waren wir die letzte Wahl."

Ich nicke.

„Wer hat es dir gesagt?"
„Ich war beim Chef", sie verdreht die Augen, „er hat sich dafür entschuldigt, sagte aber, es sei unumgänglich."
„Was wirst du jetzt tun."
Sie stellt ihre Füße auf dem Boden ab und erhebt sich seufzend.

„Das was ich immer tue, Hestia, „ich werde damit leben. Ich habe geschafft, mit allem zu leben. Auch wenn manche das vielleicht glauben, habe ich nie versucht mich umzubringen. Das Leben gibt jedem von uns seine Last, die wir zu tragen haben. Unsere Aufgabe ist diese auszuhalten, so schwer sie auch sein mag. Ich habe sie immer getragen, egal, um wie viel sie schwerer wurde, denn ich habe mir fest vorgenommen, diese Prüfung, die mein Leben mir stellt, zu bestehen. Dabei ist mir egal wie lang oder schwer sie ist. Ich will es einfach nur schaffen, weil nicht jeder es schafft. Es gibt so viele, die nicht die Chance haben, ihre Prüfung zu bewältigen oder sie einfach beenden."

„Jolie hat sie beendet."
Deborah nickt: „Aber ich bin der festen Überzeugung, dass sie ihre Aufgabe nachholen kann. Ich glaube daran, dass jeder Mensch erst dann ruhen darf, wenn er seine Prüfung bestanden hat. Wenn Jolie ihre dieses Mal nicht schafft, kommt sie an einen Ort, um sie erneut zu machen."

„Also kann es auch sein, dass wir unsere Prüfung schon einmal ertragen mussten?"
Sie zuckt mit den Schultern: „Kann sein, kann aber auch nicht sein. Jede Prüfung startet damit, dass man nichts weiß."
Ich nicke gedankenversunken.

„Wann genau kommt er?"
„11.30, warum?"
„Ich werde dort sein und mit dir deine Prüfung bestehen."
Ehe ich mich versehen kann, hat sie mich an sich gedrückt.

„Danke, kleine Göttin."
Ich schmunzle und erwidere ihre Umarmung.
„Nicht dafür, Schneewittchen."

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